Ein herzliches Grüß Gott zur Taktiktafel-Analyse des Spiels TSV 1860 München – VfB Lübeck. Nach zwei Auftaktsiegen hagelte es nun die erste Saisonniederlage. Die war unnötig wie ein Kropf, aber am Ende durchaus verdient.

TSV 1860 – VFB Lübeck hieß das Duell am Dienstagabend bei tropischen Temperaturen im ausverkauften Sechzgerstadion. Die Löwen kamen personell mit derselben Elf wie gegen Duisburg aufs Feld, systematisch setzte Maurizio Jacobacci allerdings auf das aus der Zeit unter Köllner gut bekannte 4-1-4-1. Durch die in diesem System immer nötigen Verschiebungen entstand durch den abkippenden Achter – in diesem Fall Manfred Starke – gegen den Ball ein 4-2-3-1 und bei eigenem Ballbesitz im letzten Drittel des Gegners ein asymmetrisches 4-3-3.

Die Presssinglinie der Löwen war hoch angesetzt und der Gegner wurde mit drei Spielern angelaufen. Die Defensivlinie war auf relativ hohem Niveau gesetzt – allerdings nicht hoch genug, um das Mittelfeld so eng zu machen, dass Lübeck keine Anspielstationen hätte finden können. Es öffneten sich immer wieder Räume, die der VfB dann auch bespielte.

Lübeck wählte zunächst einen sehr defensiven Ansatz im 4-2-3-1 mit Pressinglinie auf mittlerem bis tiefem Niveau und moderat tiefer Defensivlinie. Lübeck verschob nach vorne aus dem 4-2-3-1 über den hinter der Spitze als Schattenstürmer eingesetzten Gözüsirin auf ein 4-4-2 mit hängender Spitze. Gegen den Ball entstand bei Lübeck ein 4-5-1 mit flachem Ansatz im Mittelfeld, sobald die Sechzger sich aus dem Pressing befreien konnten.

Bevor wir nun zur genauen Analyse kommen gibt es an dieser Stelle wie immer die statistischen Werte des Spiels.

Statistische Werte TSV 1860 – VfB Lübeck

  • Ballbesitz TSV 1860 64% – VFB Lübeck 36%
  • Passgenauigkeit TSV 1860 82% – VFB Lübeck 69%
  • defensive Zweikampfquote TSV 1860 67% – VFB Lübeck 65%
  • Schüsse/aufs Tor TSV 1860 12/3 – VFB Lübeck 9/3
  • PPDA (zugelassene Pässe pro Defensivaktion) TSV 1860 5,51 – VfB Lübeck 11,89

Analyse der statistischen Werte

Ballbesitz

Die Zahlen hier sind keine Überraschung. Lübeck war auf gegnerischem Platz auf defensiven, destruktiven Konterfußball mit schnellem sowie vertikalem Spiel in Spitze eingestellt. Die Sechzger wollten hingegen dominanten Ballbesitzfußball spielen, der den Gegner in seiner Spielfeldhälfte beschäftigt.

So weit, so gut. Das hat für beide Mannschaften auch so hingehauen. Problematisch ist allerdings in dem Fall für die Sechzger gewesen, dass sie nach der eigenen Führung nicht mit dem plötzlich höheren und somit aggressiveren Pressing der Lübecker zurechtkamen.

Plötzlich fehlten den Sechzgern die Ideen, um selbst wieder ins Spiel zu kommen. Der Beweis dafür: wie immer Rück- und Querpässe im Aufbau. Man bleibt in Ballbesitz, denn es sind Sicherheitspässe, erreicht aber damit weder Raumgewinn noch Tempo auf dem Spielfeld. Rückpässe innerhalb der eigenen Defensivabteilung können wir allerdings diesmal vernachlässigen, denn in Abhängigkeit vom Ballbesitz war hier die Anzahl durchaus im Rahmen.

Womit wir allerdings nicht zufrieden sein können ist bei den gespielten Querpässen zu Beginn der Spielzüge im Positionsspiel.

Die Zahlen hier sind in meinen Augen schockierend. Die Defensivabteilung der Sechzger inklusive defensives Mittelfeld spielte 154 solche Pässe. Pro Ballbesitzphase waren das also rund 2,5 Querpässe. Die durchschnittliche Passanzahl pro Ballbesitzphase lag bei knapp 4,4. 56% der Pässe pro Ballbesitzphase waren also rein statistisch gesehen Querpässe innerhalb der eigenen Defensivabteilung unabhängig davon wo auf dem Spielfeld die Pässe stattfanden. Circa ein Drittel dieser Querpässe hatten Tarnat entweder als Ausgangspunkt oder Passempfänger.

Passgenauigkeit

Aus den im letzten Abschnitt beschriebenen Passverhalten leitet sich natürlich auch die hohe Passgenauigkeit ab. Nichtsdestotrotz war auch bei den Vorwärtspässen die Passgenauigkeit gut. Übersteigt allerdings die Zahl der Querpässe die der Vorwärtspässe so deutlich wie in diesem Spiel kann die Passgenauigkeit gut sein, wie sie will. Im Endeffekt wirkt das Spiel ideenlos und der Gegner kann sich jederzeit darauf einstellen was kommt. Überraschungsmomente schafft man so nicht.

Defensive Zweikampfquote

Hier kann man der Mannschaft des TSV 1860 München am gestrigen Abend gegen den VfB Lübeck keinerlei Vorwürfe machen. Jeder hat gegen den Ball alles rein geworfen, was er hatte. Sowohl Anzahl als auch Quote der defensiven Zweikämpfe waren auf einem guten Niveau. Das spiegelt sich ja auch in der Ballbesitzquote wider.

Schüsse/aufs Tor

Wenn in einem Spiel, in dem man in Abhängigkeit vom Ballbesitz des Gegners 56% länger den Ball hat als der Gegner, aber nur auf 33% mehr Torschüsse in Abhängigkeit der Torschüsse des Gegners kommt (Verhältnis 12:9) ist das definitiv ein Zeichen von fehlender Kreativität der Mannschaft an diesem Abend.

Der nächste zu kritisierende Punkt ist die Schussgenauigkeit. Lediglich drei, also 25% der Schüsse von Sechzig, gingen auf den Kasten der Lübecker. Das ist ein in dem Fall unterirdischer Wert, denn Lübeck schaffte es nur einmal einen Schuss der Löwen zu blocken. Hinzu kommt, dass die Mehrzahl der abgefeuerten und nicht geblockten Schüsse auch aus guter Position, also zentral oder halbzentral in der Box vor dem Kasten des Gegners erfolgten.

PPDA

Die PPDA-Werte spiegeln in diesem Spiel das Pressingverhalten beider Teams wunderbar wieder, hier sind keine weiteren Erläuterungen nötig. Als Zusatzinformation für neue Leser möchte ich jedoch anfügen, dass bei diesem Parameter der Wert immer indirekt proportional zu sehen ist. Also je niedriger der Wert, desto härter wurde gepresst.

Die Tore

Um diese Rubrik der Taktiktafel würde ich mich heute wirklich gerne drücken, aber natürlich werde ich wie immer das entscheidende Tor – in dem Fall das 1:2 für den Gegner – unter die Lupe nehmen.

Hier könnt ihr Euch die Tore und weitere Highlights der Partie noch einmal ansehen.

Schauen wir auf das 2:1 des VfB Lübeck gegen den TSV 1860. Taffertshofer spielt von der Mittelkreisbegrenzung auf etwa 11 Uhr den Ball nach links zu Reddemann. Nach dem langen Ball nach vorn kann dieser wiederum unbedrängt nach vorne ins Zentrum vor die Box den langen Ball auf Schneider spielen. Der lässt die Kugel abtropfen, sodass Gözüsirin ihn mit dem ersten Kontakt links flach aus etwas 18m in die Maschen jagen kann.

Kein Löwenspieler zeigt in dieser Situation auch nur die geringste Gegenwehr. Die komplette rechte Abwehrseite und das defensive Mittelfeld befinden sich im Tiefschlaf. So kommt es einem zumindest vor. Da werden Erinnerungen an Spiele unter Michael Köllner wach, wo man auch oft früh in Führung ging und dann selbstverliebt gegen aufopferungsvoll kämpfende Underdogs die Punkte dennoch liegen ließ. Die Erfahrungen der vergangenen Saison sollten der Mannschaft doch eigentlich eine Lehre gewesen sein, dass ein Tor (manchmal auch zwei) in dieser Liga meist nicht reicht, um Zählbares einzufahren.

Trotz der Temperaturen, die vorherrschen würde bis Samstag der Ball beim Training nur wenig eingesetzt werden. Denn die Niederlage gegen den VfB Lübeck hatte tatsächlich nichts mit schlechtem Spiel des TSV 1860 bis dahin zu tun, sondern mit der Hochnäsigkeit, die diese Mannschaft offensichtlich immer noch nach Führungen gegen Underdogs an den Tag legt. Schämt Euch. Bevor man in so einem Spiel nicht mindestens drei Tore selbst geschossen hat, muss der Gegner in jeder Ballbesitzphase spüren, dass es nicht erwünscht ist, dass er den Ball hat. Schafft man es nicht diese drei Tore zu erzielen, muss man kämpfen bis zum Schluss – und nicht nach einer Viertelstunde aufhören, um dann gegen einen tiefstehenden Gegner die offensichtlich immer noch fehlende Brechstange zu suchen.

Das fiel auf

Wie gerade schon beschrieben war auffällig, dass sich die Mannschaft nach der Führung gegen einen vermeintlich schwachen Gegner in Sicherheit wog und deshalb das Spiel aus der Hand gab.

Das Eigentor von Greilinger ist hier allerdings nicht gemeint. Das kann jedem passieren und war sicherlich unglücklich, aber es ist kein Grund auf den sonst immer gut und konzentriert spielenden sowie einsatzfreudigen Kämpfer einzudreschen.

Das kollektive Versagen vor dem zweiten Treffer der Gäste ist allerdings nicht schönzureden. Dieses Tor darf so nicht fallen. Schneider und Gözüsirin haben beide zu viel Platz – und das im Zentrum vor der Box! Dort, wo bisher für die Gegner der Löwen kein Land zu sehen war, ausgerechnet dort entsteht das Tor. Unbegreiflich.

Einzelkritik an Spielern spare ich mir heute.

Lobend muss man allerdings Marco Hiller erwähnen ohne dessen Paraden in der 19. und 68. das Spiel noch um ein oder zwei Tore höher für Lübeck hätte ausgehen können.

Fazit

Das wird heute kurz. Verdient verloren, weil nach der Führung die Mannschaft in Muster der vergangenen Saison zurückfiel und gegen aufopfernd verteidigende Lübecker den Faden zwar wieder fand, aber nicht mehr an die Leistung anknüpfen konnte.

Noch so eine pomadige Leistung nach einer knappen Führung will keiner sehen. Das war zwischen dem Führungstreffer bis zum zweiten Gegentor dem Wappen auf der Brust nicht würdig.

Datenquelle: Wyscout

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andreas de Biasio

ich möchte keinen verteidigen, kann mir aber gut vorstellen, dass Querpässe nicht zur Art gehören, wie Jakobacci eigentlich Fußball spielen lassen möchte. in den lätzten Monaten waren Querpässe seltener geworden finde ich. ich war am Dienstag enttäuscht über das deffensiv verhalten und auch über die Querpässe. auch finde ich, dass die Mannschafft gesammt nicht so gut gearbeitet hat wie zuletzt. das kann auch an den hohen Temperaturen gelegen haben wobei diese ja für beide gleich waren. ich verstehe sowieso nicht warum, der dfb und die dfl im Sommer die Spiele nicht später ansetzt. in Spanien ist das im Sommer gut geregelt. 21:00 Uhr hielte ich im Sommer für angemessen.

Loewe2004

Vielen Dank für die interessante und ausgezeichnete Analyse zum Spiel mit treffsicherem Fazit.
Hoffentlich erkennt auch das Trainerteam, dass man mit einem Querpassfestival mit hohem unproduktivem Ballbesitz gegen vermeintliche Underdogs keine Spiele gewinnt. Arroganz kommt vor dem Fall.
mich würde interessieren, wie Du die Auswechslung von Guttau im Zusammenhang mit der taktischen Veränderung und die übrigen Wechsel betrachtest.

Bernd Winninger

Ich hätte, erst später ausgewechselt und vermutlich einen anderen Spieler herausgenommen. Die anderen Wechsel waren vom Personal her nachvollziehbar, aber positionell nicht unbedingt. Die genaue Erklärung würde allerdings den Rahmen hier sprengen. Möglicherweise geh ich da in unserem Talk nochmal drauf ein.

Elilfant

Vielen Dank für die Analyse, Bernd!

Eine Frage: So wie ich das gesehen habe, hat sich Tarnat im Spielaufbau zwischen die beiden IVs fallen lassen. Wie kommst du dann offensiv auf ein asymmetrisches 4-3-3?

Und wäre es möglich, dass du die expected goals auch wieder in deine Analyse mit aufnimmst?

Elilfant

Habe jetzt verstanden, dass 4-3-3 gilt nur für das letzte Drittel. Würde mich trotzdem über eine Erklärung freuen.

Bernd Winninger

Die Art der Verschiebung im Aufbau nennt man dynamische Dreierkette. Da diese aber nicht permanent der Fall war hab ich sie nicht explizit erwähnt.