Bereits seit Jahren ist M. treuer Mitleser und Mitdenker bei sechzger.de. Obwohl er sich bislang nicht im Kommentarbereich angemeldet hat und dort nicht mitdiskutiert, hat er uns nun seine Empfindungen zur aktuellen Lage beim TSV 1860 zukommen lassen und zugestimmt, dass wir diese veröffentlichen dürfen. Frei nach Frank Sinatra: “Sechzig, Sechzig – the club that never sleeps…”
Leserbrief: Sechzig – the club that never sleeps…
Die Diskussionen (oder auch schlicht: das Gemecker) um den Zustand der Mannschaft und um den Trainer stoßen mir aber seit längerer Zeit auch schon auf. (…) Mut machten mir dann Christian im Podcast und Stefans Giesinger Gedanken mit dem Appell. Und Christian hat absolut Recht: Wäre das Gleiche unter einem neuen Trainer passiert, hätten alle über den Fußball geschwärmt und über den Befreiungseffekt und über die Entwicklung, die offensichtlich der neue Trainer angestoßen hat. Dessen Effekt dann auch wieder irgendwann vorbei ist, woraufhin man wieder die nächste Trainerzitrone zum Ausquetschen holt. Erinnert mich an den Missbrauch des “Bayern-Dusels” am Nockherberg vor ein paar Jahren.
Übrigens: Hannover eierte am Mittwoch 75 Minuten so rum wie die Löwen am Samstag davor 88 Minuten lang in Bielefeld. Am Samstag haben’s alle gemeckert, dass die Löwen ja gar nicht existent waren auf dem Platz, dass sie ja wenigstens a bisserl Leistung hätten zeigen können. Am Mittwoch haben’s dann gute und von vielen gewünschte Ansätze gezeigt, sich reingelegt, sich Chancen erarbeitet und dann wurde gemeckert, weil’s a wieder ned guad gnua war. Irgendwas ist immer.
Hoden- und bodenlose Angstkaninchenimitationen
Anfangs war ich logischerweise auch ultragrantig. Wer startet schon gerne so miserabel in eine Saison – und ich meine gar nicht die Ergebnisse, sondern diese hoden- und bodenlose Angstkaninchenimitationen unserer Elf plus Bank, die echt jede Hoffnung im Keim ersticken ließ. Und ich weiß noch, dass mein erster Gedanke, als Giannikis letztes Jahr als neuer Trainer angekündigt wurde, sofort war: “Na, bitte ned, mir brauchan echt koan Jacobacci light”.
Trotz aller Liebe zu Sechzig beobachte ich die Buben jedoch mit einer gewissen Distanz, die den oben angesprochenen persönlichen Umständen geschuldet ist. Und aus dieser Distanz finde ich: Giannikis (das ziemlich genaue Gegenteil von Jacobacci) tut Sechzig gut – beziehungsweise könnte es, wenn man ihn lange genug ließe. Ich meine das gar nicht beschränkt auf das rein Fußballerische, das sich aber doch so nach und nach zeigt und entfaltet, je mehr die Jungs ihre Eier auf dem Platz entdecken und sich einarbeiten.
Wir sind ein leidenschaftlicher, manchmal viel zu ungestümer und außerhalb des Fußballgeschehens abartig chaotisch kontraproduktiver Haufen mit viel zu viel Revierverhalten, viel zu viel Machtkämpfen und viel zu viel… ja, einfach: Lärm.
Ein Loblied auf Giannikis
Natürlich wollen solche Fans eine Mannschaft, die unsere Leidenschaft auf dem Platz so verkörpert und lebt, wie wir das drumherum tun und leben. Und am besten noch den passenden Trainer dazu, mit gscheid Ausstrahlung und markigen Sprüchen.
Aber die unaufgeregte, introvertierte, auf die Sache konzentrierte Art von Giannikis – gepaart mit seiner Menschlichkeit und seinem Mangel an Machtgeilheit oder Boshaftigkeit – wäre längerfristig eine wirkliche Wohltat für einen Verein, der sich selbst aus Himmelsmanna noch einen Zankapfel heraufbeschwören könnte.
Dass die Mannschaft ihm dazu noch den Rücken deckt, ist umso mehr ein gutes Zeichen. Denn was willst du mit einem charismatischen Trainer, der sich vor der Kamera gut macht, “gut ankommt” wie ein Demagoge im Umfragerausch – und dann seine Mannschaft wie Dreck behandelt und sich zum Feind macht?
Impuls vs. Nachhaltigkeit
Ruhe entfaltet sich immer langsam nach und nach, um dann aber konstant zu glühen, während das Feuer der charismatischen Typen, die sofort begeistern, gerne mal sofort hell leuchtet und dann schnell verpufft. Oder nicht schnell verpufft, aber dafür dann alle Beteiligten nach und nach verbrennt.
Leider ist Sechzig seit jeher ein Haufen, der unheimlich gut im langfristig Träumen und erschreckend oft unfassbar mies im langfristig Denken ist. Gehandelt wird impulsiv, aber irgendwie soll darauf dann nachhaltig was wachsen…
Sechzig, Sechzig – the club that never sleeps…
Und selbst angenommen, die würden alle lügen und Werner plant hinter Giannikis’ Rücken längst die Nachfolge, und Agi ahnt/weiß es, bleibt aber in den Medien weiterhin ruhig und liebenswert diskret, und alles werkelt im Hintergrund, ohne dass es jemand mitbekommt – auch das wäre für mich durchaus positiv. Denn öffentliches Chaos und ungefragtes Blabla von vierundfünfzigtausend Köchen an einer Sardinendose voll Brei hamma echt scho gnua. Diskretion ist ein hohes Gut, besonders für einen lauten Chaotenhaufen wie den unseren. Bitte jetzt alle mit Sinatra-Stimme: “Sechzig, Sechzig – the club that never sleeps…”
Nach meiner anfänglichen Ablehnung, die dann zu pessimistisch getünchter Skepsis mutierte und sich schließlich (noch während der Negativserie) in einen Sinneswandel auflöste, empfinde ich den Mann inzwischen tatsächlich als eine Wohltat.
Mittel zum Zweck der Glückshormonproduktion
Mir ist das langfristige Wohl von Sechzig lieber als jede kurzfristige Erfolg, der den meisten Fans – wie allen Fans jeder Sportart, Sparte und Gattung überall – ohnehin nur dazu dient, die eigene Glückshormonproduktion hochzufahren, weil das eigene Leben zu wenig Grund dafür bietet. Meins ist jetzt auch kein Honigschlecken. Aber vielleicht denke ich genau deshalb nicht in kurzfristiger Genugtuung.
Klar würde es mich total freuen, wenn die Mannschaft sensationell spielt, triumphiert und sich aus eigener Kraft Höheres und Besseres ergattert. Aber wenn sie absteigen, bin ich deswegen nicht weniger Fan. Ich will als Fan auch sehen, dass der Verein menschlich gedeiht, dass die Spieler keine Arschlöcher sind, und bin als Fan der Meinung, dass Verbundenheit nicht aus reinem 3-Punkte-Denken entsteht (oder zumindest entstehen sollte). Und ich bin diese ständige Zankerei und Meckerei von ALLEN VERDAMMTEN SEITEN so leid. Nicht nur leid, sondern sie macht auch was mit mir, und nicht auf eine gesunde Art.
Wer braucht einen Köllner im Messias-Modus?
Aus dieser, vielleicht für die allermeisten sehr seltsamen, Perspektive bin ich froh, dass Giannikis unser Trainer ist, weil er genau die Werte verkörpert und ausstrahlt, die ich seit Jahren vermisst habe. Und das wird auch auf die Spieler wirken. Vor allem auf die jungen – und das ist Gold wert. Ich scheiße auf Erfolg, wenn das bedeutet, dass nur Bastarde, Streithähne und Geldsäcke das Sagen haben. Ich gehöre zu den Typen, die lieber ein Schmöller-Team in der Kreisliga anfeuern würden als, sagen wir mal, einen Köllner im Messias-Modus in der Champions League. Genau aus den Gründen. Aber vielleicht bin ich da auch “speziell”…
Titelbild: OR-Pressedienst
Sauber! Das ist klüger und menschlicher als vieles was dauererregte “Wutlöwen” im Netz absondern.
ich finde v.a. die Sichtweise auf die Person Giannikis und seine unaufgeregte, viele inzwischen zur Weissglut treibende Art zu coachen und kommentiern…..sehr bedenkenswert und gut! immer wenn wir scheitern, und das passiert ja OFT, diskutieren wir wies besser gehen könnte, gerne und oft wird dann Freiburg genannt mit dem ex Streich und mit welcher selbstverständlichen Gelassenheit die dort ihre Trainer werkeln lassen…..dass sowas bei uns mal Früchte tragen könnte,undenkbar 😉
Danke für deine aufrichtigen Zeilen. Hab mir diese gerade zweimal und in aller Ruhe durchgelesen … ja und es ist eine sehr spezielle Haltung. Aber
eine durchaus angemessene Löweneinstellung, die zwar sicher nicht jeder Fan und treue Sechzger teilen mag. Doch wir alle lieben Düsen Verein ganz gewiss nicht aus Erfolgsgründen oder für kurzfristige Kickerlebnisse. Wir Löwenväter oder Freunde wollen ja bewusst anders sein als diese roten erfolgshungrigen Champagner-Supporter der Seitenstrassler mit ihren „Vorbestraften-Vorbildern der Jugend“.
Nein wir alle sind Löwen aus tiefer Überzeugung in weiß und blau auf Giesings Höhen ( oder zwischendurch verirrt woanders) und in jeder Liga.
Denn echte Vereinsliebe kennt keine Liga!
In diesem Sinne bleiben wir kritisch aber treu für 1 8 6 0.
Und an der roten Erde wünsche ich uns und dem Trainer weitere Punkte für diese schwierige Saison im sportlichen Neustart. GEDULD ist halt eine Tugend, dazu ein bisschen Fairness , Toleranz und Reflektion kann a ned schaden.
Ein kurzes, aber aufrichtiges Bravo zu diesem trefflich formulierten Leserbrief!
Bleibt zu wünschen, dass er von möglichst vielen Blauen gelesen wird. Mit Herz und Verstand.
Guad zusammengefasst und ich denke da gehen sehr viele mit.
Ähnlich könnte man auch so über unseren Präsi schreiben 😉
Leider spielt manchmal das Emotionale eine so dominante Rolle, dass auch ich dann zu schnellen Reaktionen tendiere…
So viel wahre Sätze:
Mir ist das langfristige Wohl von Sechzig lieber als jede kurzfristige Erfolg,….
Aber wenn sie absteigen, bin ich deswegen nicht weniger Fan.
Danke für den Leserbrief!