Beim TSV 1860 machte sich Ernst Tanner als Leiter des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) sowie Entdecker und Förderer zahlreicher späterer Profispieler einen hervorragenden Namen. Dies weckte natürlich auch andernorts Begehrlichkeiten und so wechselte der gebürtige Traunsteiner 2009 zur TSG Hoffenheim, wo er als Geschäftsführer und Vorstandsmitglied tätig war.

Seine nächste Station lautete Red Bull Salzburg, wo er als Nachwuchsleiter die komplette Organisation und Koordination innerhalb der österreichischen Fußball-Abteilung des Getränkeherstellers lenkte. Nach sechs erfolgreichen Jahren in Österreich verließ er Europa, um 2018 als Sportdirektor bei Philadelphia Union (Major League Soccer) anzuheuern.

sechzger.de:

Servus Ernst, vielen Dank, dass Du Dir Zeit für uns nimmst. In der MLS ist die abgespeckte Saison ja gerade in vollem Gange. Was treibst Du gerade? Und wie hat man sich die aktuelle Spielzeit der MLS vorzustellen?

Ernst Tanner:

Ich bin gerade am Wochenende nach 5 Wochen Hotelquarantäne in Orlando zurückgekommen und ruhe mich noch davon aus…

Wir haben dort das „MLS is Back“ -Turnier gespielt, in dem die ersten drei Gruppenspiele zur Liga gezählt werden und unsere im März unterbrochene Saison quasi wieder aufgenommen.

sechzger.de:

Gerade die USA sind durch die Corona-Pandemie ja auch ziemlich stark betroffen und haben erst sehr spät auf die drohende Gefahr reagiert. Inwiefern warst Du mit Deiner Familie und auch Dein Club Philadelphia Union von den Restriktionen betroffen?

Ernst Tanner:

Ich weiß gar nicht, wie drohend die Gefahr überhaupt ist. Zumindest für meine Wenigkeit und auch für unsere Spieler scheint das kein großes Problem zu sein. Wir hatten hier fünf Infizierte und die haben es bis auf einen gar nicht wirklich gemerkt. Durch die Serology-Testung (auf Antikörper) kam das dann aber alles raus und seitdem testen wir praktisch viermal die Woche und hatten keinen einzigen Positiven mehr. Der Lockdown war hier wie bei euch und hat unser Leben natürlich eingeschränkt und als die Maßnahmen gelockert wurden, sind wir dann zum  Turnier nach Florida geflogen. Von daher bin ich mal froh, dass diese Phase gerade zu Ende ist.

Meine Familie ist ja in Bayern geblieben und da glauben auch alle, dass sie es schon gehabt haben, aber halt Mitte Januar und da war von Corona noch nicht großartig die Rede. Aber nachdem es auch keinen Test gab, wurde das auch nicht erfasst.

sechzger.de:

Ihr seid super ins „MLS is Back“-Turnier gestartet und erst im Halbfinale an Portland gescheitert. Überrascht Dich das oder hast Du das dem Team genau so zugetraut? Und wie geht es denn nun mit der regulären Saison weiter?

Ernst Tanner:

Ja, leider sind wir im Halbfinale gegen Portland mit 1:2 ausgeschieden (Anm. d. Red.: Portland Timber gewann auch das Finale gegen Orlando City mit 2:1 und qualifizierte sich damit automatisch für die CONCACAF Champions League), aber da waren wir selber schuld und hätten das auch gewinnen können. Ich weiß, dass wir heuer ein sehr gutes Team haben und grundsätzlich jeden schlagen können – und das mit einem der geringsten Budgets aller Klubs, aber das habe ich ja schon bei den Löwen gelernt. 🙂

Ab 21. August geht es dann zuerst mit sechs Spielen gegen die regionalen Gegner weiter. Wir spielen je nach Bundesstaat ohne oder vor stark reduzierter Zuschauerkapazität und nur innerhalb der Eastern Conference. Unter „regional“ versteht man hier weniger als zwei Flugstunden wie New England oder Columbus oder halt mit dem Bus zwei oder drei Stunden nach New York oder Washington. In der nächsten Phase spielen wir dann vom 19. September bis zum 9. November zwölf weitere Spiele gegen die anderen Teams im Osten und ab 20. November beginnen hier die Playoffs mit dem MLS Cup Finale am 12. Dezember.

sechzger.de:

In Europa wird die Major League Soccer ja gerne mal belächelt. Wie schätzt Du das Niveau der Liga im Vergleich zu Deutschland ein? Welche Spieler der Philadelphia Union könnten sich auch hierzulande durchsetzen? Und gibt es bei den Löwen aktuell einen Spieler, den Du Dir in Philly vorstellen könntest?

Ernst Tanner:

Die Liga hat in den letzten zehn Jahren stets an Niveau und Professionalität dazugewonnen. Gerade die vielen Spieler aus Südamerika und Mexiko haben massiv dazu beigetragen und es wird  mittlerweile auch viel Geld auch für junge Toptalente ausgegeben. Die MLS wird als Sprungbrett für Europa gesehen und wir sind vielleicht nicht mit den Top-Five-Ligen in Europa und damit auch der Bundesliga vergleichbar, kommen aber sicher gleich danach. Ich habe mit Aaronson und McKenzie zwei hochtalentierte Jungs im Kader, aber auch ein Kai Wagner kann es in der Bundesliga schaffen. Er hat sich mittlerweile als einer der besten, wenn nicht sogar als bester Linksverteidiger in der Liga etabliert und das mit gerade mal 23 Jahren. Die Dritte Liga und die Löwen habe ich leider nicht mehr so im Fokus, da wir uns natürlich auf unsere Hauptmärkte konzentrieren müssen.

sechzger.de:

Wie kam es denn eigentlich zu Deinem Wechsel in die USA? Man sollte meinen, dass man sich im RB-Konzern auch langfristig wohlfühlen kann… War es der Anreiz, doch nochmal in vorderster Front zu stehen, statt in zweiter Reihe im Nachwuchsbereich?

Ernst Tanner:

Ich war eigentlich bei Red Bull alles andere als in der zweiten Reihe, aber wer mich kennt, weiß, dass mich das überhaupt nicht interessiert. Ich wollte jedoch schon immer mal im Ausland und dann am besten in einem englischsprachigen Land arbeiten und nachdem ich 2012 eine Offerte aus Philadelphia noch zugunsten von Red Bull abgelehnt hatte, habe ich mich dann dafür entschieden, als die Möglichkeit im Sommer 2018 wieder kam und es keinesfalls bereut! Einer unserer Eigentümer kennt mich aus meiner Zeit bei Hoffenheim und wir halten seit über zehn Jahren Kontakt. Das half mir selbstverständlich bei meiner Entscheidungsfindung.

sechzger.de:

Apropos Nachwuchs: Bei den Löwen galtest Du ja als der Macher, als derjenige, der aus Talenten Profis geformt hat. Volland, Baumgartlinger, Schäfer, Johnson, die Benders, Holebas und viele mehr – sie alle sind unter Dir zu Profis geworden und später ihren Weg gegangen. Gibt’s für sowas ein Patentrezept oder ist da auch viel Glück dabei?

Ernst Tanner:

Ich habe mal zusammengezählt, wie viele Spieler aus unserer Jugendabteilung aus meiner Zeit bei den Löwen den Sprung entweder in die erste oder zweite Bundesliga oder in eine erste Liga im Ausland geschafft haben und das waren dann über 70. Da wir mit Individuen zu tun haben, gibt es wohl keine Patentrezepte und das wäre, glaub ich, zu einfach gedacht, aber der Faktor Glück spielt hier angesichts der Daten wohl eher eine untergeordnete Rolle. Wir haben halt versucht, im Training  möglichst innovativ und akribisch zu arbeiten, den Markt an Talenten weitestgehend zu überschauen und eine gute Vorstellung davon gehabt, was einmal aus einem Jungen werden könnte, wenn wir ihn zu uns holen und in unser Programm integrieren. Das hat übrigens auch gut zum Credo des Klubs gepasst.

sechzger.de:

Wer war denn aus Deiner Sicht das größte Talent, mit dem Du bei 1860 gearbeitet hast und warum?

Ernst Tanner:

Das kann man nicht einfach so beantworten, da der Talentbegriff wie gesagt sehr weit gefächert ist und jeder Spieler seine eigenen Stärken ausprägt. Daher wird es den Spielern einfach nicht gerecht, jemanden heraus- oder überzustellen. Du hast aber vorhin schon ein paar erwähnt, die in jedem Fall zu potentiellen Kandidaten zählen würden.

sechzger.de:

Heute muss sich der TSV 1860 ja leider mit der 3. Liga begnügen und ob man im Kampf um die Aufstiegsplätze mitmischen kann, erscheint fraglich. Was muss sich denn aus Deiner Sicht ändern, um wieder nach oben schielen zu können?

Ernst Tanner:

So weit waren die Löwen im letzten Jahr ja nicht davon weg, oder? Die Dritte Liga ist eine finanziell schwierige Liga. Das hatten wir damals bei ihrer Einführung ja schon geprüft, als es darum ging, eventuell mit der U23 dort zu spielen. Ein Traditionsverein hat eigentlich einen Vorteil, wenn es um die Akquise von Geldern und Spielern geht. Allerdings müssten dann mal wieder alle an einem Strang ziehen und das ist bei den Löwen seit langer Zeit nicht mehr der Fall gewesen.

Im zweiten Teil des Interviews analysiert Tanner das heutige Fußball-Business und wagt einen Blick in die Zukunft.

 

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