Im fünften Teil unseres Interviews mit Prof. Dr. René Paasch erläutert uns der Sportpsychologe die Bedeutung des Mannschaftskreises vor und nach dem Spiel. Zudem setzt er sich mit Negativerlebnissen und deren Folgen auseinander, ehe er die Rolle von Führungsspielern definiert.

Interview mit Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch

Bevor wir zum Thema “Negativergebnisse” kommen, noch eine Frage: Wieso hat es sich in den letzten Jahren etabliert, dass sich die Mannschaften vor dem Anstoß nochmal zu einem Kreis auf dem Platz zusammenfinden? Ich meine, die kommen doch zusammen aus der Kabine. Die hatten da doch eigentlich Ruhe, konnten sich aufeinander konzentrieren und werden sich doch da eingeschworen haben und die Strategie vorgeben. Warum machen die das dann auf dem Platz nochmal?

Zum Einen wollen sie nach außen natürlich Einheit zeigen, wollen auch nochmal verstärkt zeigen, wer sie sind und dass sie zueinander stehen. Man findet da als Verantwortlicher bestimmt Worte und öffnet bestimmte Fenster. Das bedeutet: Unsere Wahrnehmung ist geprägt von unserer Vorstellung. Wenn ich mich jetzt mit Leistung auseinandersetze, dann werde ich im Alltag nach Leistung suchen. Werde also Kleinigkeiten versuchen zu verändern, um Leistung zu generieren.

Selektive Wahrnehmung zur Motivation

Sie erhoffen sich durch eine motivierende Ansprache nochmal ein gewisses Fenster aufzumachen, damit sich die Spieler dann daran orientieren. Also umso mehr ich mich mit Stärke auseinandersetze, desto mehr werde ich mich an Stärke orientieren und auf dem Platz verhalten. Setze ich mit Schwächen auseinander, werde ich dieses Fenster auch aufmachen.

Mannschaftskreis vor dem Spiel
Die Löwen machen sich vor dem Spiel nochmal heiß auf die bevorstehende Aufgabe

Man kennt dieses Phänomen der selektiven Wahrnehmung. Wenn ich ein tolles Fahrzeug gut finde, dann werde ich ganz oft komischerweise mit diesem Auto konfrontiert werden im Alltag, sehe dieses Auto immer wieder. Wir konstruieren ja unsere Wirklichkeit und je mehr ich mich mit einem bestimmten Thema auseinandersetze, desto mehr werde ich mich dem zuordnen und mich auch so verhalten. In dem Moment, in dem man im Kreis steht, ist es möglich, bestimmte Schlüsselworte zu benutzen, bestimmte Anweisungen zu geben, um dieses Fenster zu öffnen, um sich genauso zu verhalten.

Wichtig: Eine Nacht drüber schlafen

Und nach dem Spiel?

Im Nachhinein soll man gar nicht großartig über das Spiel resümieren und sagen, wie es gewesen ist. Die Jungs sind voller Hormone. Die sind extrem belastet, sie sind erschöpft, müde. Die haben keinen klaren Gedanken. Da macht es nicht viel Sinn, über das Spiel zu sprechen. Da gibt es ja diesen berühmten Satz, man soll immer eine Nacht drüber schlafen. Das ist auch so, damit man einen anderen Blick bekommt und dass man sich emotional so ein bisschen entkoppeln kann von dem, was gerade stattgefunden hat.

Aber es kann hilfreich sein, die Jungs bei einem Misserfolg nochmal so ein bisschen aufzurichten. Noch einmal ein paar nette Worte zu sagen. Das hilft dem ein oder anderen aus diesem Gefühl heraus zu kommen, weil sie ja dann ganz oft mit sich selbst beschäftigt sind und Zweifel haben.

“Wir haben heute gemeinsam gewonnen oder gemeinsam verloren.”

Da versucht man dann, ein Stück Neutralität wieder hinzubekommen, den gesunden Blick auf eine Situation. Da kann der Trainer mit den richtigen Worten natürlich den ein oder anderen Spieler erreichen, der dann besser mit bestimmten Situationen umgehen kann. Aber eigentlich soll das auch noch einmal deutlich machen: “Hey, alle von euch, ob auf dem Platz oder neben dem Platz, egal. Wir haben heute gemeinsam gewonnen oder gemeinsam verloren. Schaut, was ihr mitnehmen könnt. Was habt ihr heute gelernt, wo können wir daran arbeiten?” Also es geht eher um den Weg, mit diesen Situationen umzugehen und um noch einmal deutlich die Einheit nach außen zu repräsentieren.

Mannschaftskreis nach dem Spiel
Mannschaftskreis nach getaner Arbeit

Frisches Blut oder bewährte Kräfte?

Der TSV 1860 hatte in der Saison 21/22 eine besondere Situation, da man in der Spielzeit zuvor quasi am letzten Spieltag die mögliche Aufstiegsrelegation versemmelt hat. Das hat die Mannschaft in den ersten Wochen der neuen Saison womöglich noch ziemlich belastet. Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll gewesen, das Team mit neuen Spielern aufzufrischen? Oder war es richtig, an dieser Mannschaft, die eigentlich über weite Strecken erfolgreich performte, festzuhalten?

Also schlussendlich gibt es sicherlich kein Patentrezept. Es kann richtig sein, an bestehenden Strukturen und Spielern festzuhalten, wenn man Entwicklungspotential feststellen kann. Also wenn ich als Trainer und als Verein sehe, dass da noch mehr möglich ist, dass man bei dem einen oder anderen noch mehr rausholen könnte und dass das Team noch mehr zusammenwächst, dann macht das für mich Sinn.

Aber wenn ich erkenne, dass vielleicht genau diese Leistungsgrenze war und es nicht noch weiter gehen kann, wäre es sicherlich gut, an der einen oder anderen Stelle Änderungen vorzunehmen.

Jürgen Klopp als Beispiel

Beispiel Jürgen Klopp: Er hat, als er in Dortmund seinen Trainerposten aufgegeben hat, deutlich gesagt, dass er nicht mehr tun kann. Er kann nicht mehr rausholen aus den Spielern, kann sie nicht mehr besser machen. Und dann muss man auch ehrlich zu sich sein und sagen: Okay, ich bin jetzt nicht mehr der richtige Mann für diesen Job, für diesen Verein. Und so ist es im Grunde auch dann mit der Mannschaft. Wenn ich doch merke – und das merkt man dann, wenn man sich intensiv mit den Jungs auseinander setzt – ist da noch was möglich? Sind sie nochmal bereit, diesen ungewöhnlichen Kampf anzunehmen? Sind sie bereit, mehr zu leisten als all die anderen Teams? Oder muss ich frischen Geist mit reingeben, der das möglich macht?

Die Frage kann sich natürlich nur der Verein stellen und ganz besonders das Trainerteam. Denn die kennen ihre Jungs und sie wissen, wie sie funktionieren. Natürlich ist frischer Wind immer gut. Wichtig ist nur: Passt dieser neue Wind zum Team? Ist das jemand oder sind das Personen, die der Mannschaft auch wirklich einen Mehrwert bieten können? Das bedeutet eben nicht nur fußballerisch, sondern auch als Menschen.

Nach dem Spiel in Ingolstadt 20/21
Relegation verpasst und dennoch von den Fans gefeiert: die Löwen nach der Niederlage in Ingolstadt zum Abschluss der Saison 2020/21

Führungsspieler: Leitwolf oder Teamplayer?

Wie wichtig sind da eigentlich so Führungsspieler? Sollte man eigentlich lieber einen Leitwolf, einen Kapitän im wahrsten Sinne des Wortes haben? Oder wie verteilt man sowas innerhalb einer Mannschaft sinnvoll auf mehrere Schultern?

Früher war das auch so. Da hatte man ja diesen einen Spieler, diesen Schlüsselspieler, der alles zusammengehalten hat. Heute ist es vielschichtiger. Heute hat man nicht mehr diesen einen Leader. Heute hat man viele verschiedene Charaktere und jeder hat die Möglichkeit, das Beste aus seiner Situation zu machen, aber auch das Beste für den Anderen zu machen. Deswegen ist Verantwortung grundsätzlich bei jedem sehr, sehr wichtig.

Aber wir brauchen natürlich auch Vorbildfunktionen, denn wir orientieren uns an Vorbildern. Wenn Vorbilder die Dinge vorleben und auch gewisse Dinge zeigen, dann ist diese Strahlkraft bei einem anderen sehr groß. Wir können sogar aufzeigen, dass – wenn bestimme Spieler sich so und so verhalten – andere Spieler automatisch dieses Verhalten imitieren. Deswegen ist es schon wichtig, nicht nur vorne einen Leader zu haben, sondern auch im Mittelfeld und hinten in der Defensive. Im Grunde kann man in vielen verschiedenen Bereichen der Mannschaft Leader haben, die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen, aber auch für das Team. Je mehr Vorbilder wir haben, desto mehr wird sich die Allgemeinheit an dieser Vorbildfunktion orientieren.

Sascha Mölders Torschützenkönig
Galt bei 1860 lange Zeit als Führungsspieler und Vorbild: Sascha Mölders

Verantwortung für alle Bereiche

Geht es als Vorbild eher um die Spielstärke oder eher um die inneren Werte als Führungsperson?

Beides ist sehr wichtig. Das heißt natürlich auch die Qualität in den Füßen, weil wir ganz oft auch nach Spielern schauen, die vorangehen, die eine Menge für das Team tun. Wir kennen das schöne Beispiel von Bastian Schweinsteiger in der Nationalmannschaft. Da war es ganz oft so erkennbar, dass er eben nicht nur auf dem Platz eine Rolle übernommen hatte, sondern er hat sich auch extrem neben dem Platz für seine Jungs interessiert. Wenn es einem einmal nicht gut ging, dann hat er sich nach dem Training Zeit genommen, ist auf den Spieler zugegangen und hat gefragt: “Mensch, wie gehts Dir? Kann ich dir helfen?”

Führungsspieler übernehmen Verantwortung für alle Bereiche, die in diesem Team etwas ausmachen könnten und auch in ungewöhnlichen Situationen. Schweinsteiger hatte vor der Weltmeisterschaft einen Knöchelbruch und dennoch gespielt. Dann im Finale diese Stirnverletzung, die so geblutet hat – und dennoch ist er voran gelaufen. Das ist natürlich etwas, was uns auch Mut gibt. Weil wenn der das kann, kann ich das auch. Menschen werden mitgezogen.

“Wir lieben es, Vorbilder zu haben.”

Wenn wir uns die Geschichte vor Augen führen, dann lieben wir es, Vorbilder zu haben. Aber wir lieben auch Menschen, die uns Dinge vormachen. Ich könnte heute noch nicht laufen, wenn Mama und Papa es mir nicht gezeigt hätten, wie man laufen muss.

Da sieht man, wie wichtig es ist, wie wir einander brauchen. Wie sehr wir aber auch Menschen brauchen, die vorangehen, die Vorbildcharakter zeigen und deswegen würde ich es wichtig finden, auf verschiedenen Positionen verschiedene Leader zu haben und am besten schweißt man sie so zusammen, dass jeder Spieler sich erreicht fühlt und auch davon profitieren kann.

Was erwartet uns im letzten Teil des Interviews?

Im letzten Teil des Interviews befassen wir uns u.a. mit der Psyche eines Fußballers während der Reha-Phase und der Angst des Schützen beim Elfmeter.

Hier findet Ihr sämtliche Teile des Interviews

Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V (dieser Artikel)
Teil VI

Vielen Dank an unseren freien Mitarbeiter “Kassenwart”, der das Gespräch mit Prof. Dr. Paasch führte.

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