Nachdem sich Prof. Dr. René Paasch gestern über Spielerberater und auch unseren Trainer Michael Köllner geäußert hat, beschäftigt sich das Interview mit dem Sportpsychologen in Teil III unter anderem mit Ritualen und Extremsituationen.

Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch im Interview

Sie hatten bereits erwähnt, dass Spieler versuchen, Unsicherheiten zu reduzieren. Damit sind oft auch Rituale verbunden. Der eine bekreuzigt sich beim Einlaufen, der nächste muss erstmal den Ball anfassen oder über den Rasen streicheln. Ein anderer zieht sich immer erst den rechten Schuh an und hat einen gewissen Ablauf, wie er seine Trainingskleidung ablegt. Wie wichtig sind für die Sportler diese Rituale und was kann eigentlich schlimmstenfalls mit diesem Spieler passieren, wenn er aus diesem typischen Ablauf rausgerissen wird? Wenn z.B. beim Binden plötzlich der Schnürsenkel reißt oder er stolpert in dem Moment, in dem er über den Rasen streicheln will. Was läuft in diesem Moment in dem Spieler ab?

Also in erster Linie ist erstmal ein Ritual auch ein Stück Selbstsicherheit oder Selbstvertrauen. Je mehr wir Dinge tun, die wir kennen, desto mehr vertrauen wir uns. Umso ungewohnter Dinge sind, desto unsicherer fühlen wir uns. Deswegen versuchen wir auch so viele Erlebnisse wie möglich zu schaffen. Wir koppeln das aber auch an bestimmten Situationen. Das heißt: Wenn ein Spieler gute Spiele macht und hatte sich dabei so und so verhalten, dann nimmt er bewusst das als Aufhänger, dass, wenn er sich so immer verhält, daraus dann das Ergebnis folgt. Das ist natürlich etwas, was bei ihm im Kopf stattfindet. “Er konditioniert sich” sagen wir in der Psychologie, er hat also Schlüsselreize. Wenn wir einen knurrenden Magen haben, kann man davon ausgehen, dass man dann automatisch zum Kühlschrank geht, um etwas zu essen.

Handlungssicherheit durch Automatismen

So gibt es viele andere Dinge in unserem Leben, die wir automatisch tun. Das erleichtert uns das Leben. Es führt aber auch dazu, dass wir ganz oft Dinge tun, ohne dass uns das bewusst ist. Kennen Sie vielleicht: Sie fahren Auto und wenn sie immer so ein bisschen gedanklich abschweifen, dann fragen sie sich: Wer ist eigentlich gerade das Auto gefahren oder was hab ich die letzten 50 Kilometer eigentlich gemacht? So sehr bin ich in diese Automatismen drin. Automatismen sind auch wichtig, denn sie verschaffen uns Handlungssicherheit. Rituale führen dazu, dass uns Bestätigungen gegeben werden für unser Verhalten, was möglicherwiese dann die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir auch wieder gut sind.

Aber das ist eher etwas, was nur bei uns stattfindet. Wir koppeln also das Verhalten, das Ritual, an Leistungsfähigkeit. Tatsächlich ist es aber nur hausgemacht, aber keineswegs so, dass es wirklich einer Realität entspricht. Das kann sich auch wieder verändern. Es kann sogar passieren, dass wenn dieses Ritual praktiziert wird und er nicht gut spielt, dass er dieses Ritual übern Haufen wirft und wieder nach neuen Möglichkeiten sucht. Deswegen muss man gut überlegen, was an für Automatismen im Alltag hat und wie sehr man davon abhängig ist.

Neue Wege statt Komfortzone

Ich will doch, dass ein Fußballer auf alle Situationen reagieren kann und eben nicht nur in dieser Komfortzone. Mir ist wichtig, dass er sich auch außerhalb der Komfortzone aufhält und auch mutig neue Wege geht, damit auch hirntechnisch eine Veränderung stattfinden kann. Das Schlimmste, was passieren kann, ist eben, dass dieser Halt, diese Sicherheit verloren geht, wenn das Ritual auf einmal nicht mehr so funktioniert.

Dann zweifelt er und sagt: “Ok, ich versteh das jetzt nicht. Eigentlich war doch der Auslöser dieses so und so Verhalten und das gibt mir die Sicherheit auf dem Platz zu funktionieren.” Aber es stimmt, fast jeder Fußballer, den ich kenne, arbeitet mit Ritualen, um sich Sicherheit zu erarbeiten und  im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Unterschiedliche Reaktionen auf Extremsituationen

Nehmen wir an, der Spieler ist nun in einer Situation, in der er sich sicher fühlt. Das Spiel läuft, es kommt nun jedoch zu einem extremen Event. Man erinnere sich an das EM-Spiel, in dem der Spieler Christian Eriksen einen Herzstillstand erleidet und man plötzlich um das Leben seines Mitspielers bangen muss. Der Anlass kann natürlich auch harmloser sein, z.B. eine Spielunterbrechung wegen Ausschreitungen oder vielleicht sogar nur ein VAR-Einsatz. Jetzt ist der Spieler komplett rausgerissen, das Spiel geht aber dann irgendwann weiter und nun die Frage: Findet der Spieler aufgrund des Adrenalinspiegels wieder in den Flow? Oder kann er die Umstände gar nicht ausblenden? Wie muss man sich das vorstellen?

Das ist natürlich sehr unterschiedlich. Jeder Spieler geht sehr unterschiedlich mit solchen Situationen um. Aber solche Ereignisse, die plötzlich auftreten und für uns ganz neu sind, binden natürlich extrem viel Aufmerksamkeit. Es verändern sich die Gedanken, die Sichtweise. Wir merken im Extremfall erst mal, wie nebensächlich Fußball sein kann, wenn wir bei der Situation von Eriksen sind. Dass es einfach viel mehr gibt als Fußball und das dann nicht mehr um Ergebnisse geht, oder ein Punkt oder ein gutes Spiel. In solchen Momenten ist es wichtig für einen Spieler, dies zu akzeptieren. Dass das eine Situation ist, die er nicht verändern kann. Und die nächste Frage, die man sich dann stellen muss: Was kann ich jetzt tun, um zurückzufinden? Also auch konkret wirklich Lösungswege für sich zu erarbeiten.

Marco Hiller TSV 1860 FC Bayern II
Marco Hiller blieb nach einem bösen Foul von Joshua Zirkzee minutenlang lieb und blutete stark – eine Extremsituation für seine Mitspieler

Frühzeitiger Umgang mit Wenn-Dann-Strategien

Das ist oft ganz schwer, weil solche Situationen an Emotionen gekoppelt sind. Das Stärkste, was uns Menschen ausmacht, sind nun mal Hormone. Wenn diese erst mal dazu führen, dass wir uns mit Ängsten und Sorgen auseinandersetzen, dann ist das für den einen oder anderen Spieler, der keine Technik, keine Methoden bereit hat, um da wieder herauszufinden, sehr, sehr schwer, wieder ins Spiel zurückzufinden.

Deswegen müssen Spieler auch frühzeitig lernen, mit Wenn-Dann-Strategien umzugehen. Was ist denn, wenn ich gefoult werde? Wie ist mein Verhalten? Was ist, wenn ich nicht schnell genug ins Spiel finde? Wie muss ich mich verhalten, um ins Spiel zu finden? Was ist, wenn der Schiedsrichter mir zu Unrecht die gelbe Karte gibt oder eine rote Karte? Ganz oft haben Spieler diese Alternativen für sich gar nicht im Kopf.

“Ich würde sie unter Stress setzen”

Wir brauchen also immer auch für uns Erklärungs- und Verhaltensmuster, um mit bestimmten Situationen umzugehen. Und deshalb würde ich wirklich ganz oft Spieler in bestimmten Situationen bringen, damit sie das kompetent lösen können. Aber wenn ich etwas nicht kenne, weiß ich auch nicht, wie ich darauf reagieren kann. Das kann man üben, das kann man trainieren. Man kann mit vielen Situationen des Alltags Spieler in diese Situationen bringen.

Ich würde sie unter Stress setzen, unter Druck setzen. Ich würde Elfmeter üben, würde sie oft so wie möglich in Situationen bringen, wo sie für sich Lösungen erarbeiten müssen. Je mehr sie hirntechnisch an Lösungen parat haben, desto adäquater können sie mit den Situationen des Fußballs umgehen.

Was erwartet uns im vierten Teil des Interviews?

In Teil IV des Interviews klärt uns Prof. Dr. René Paasch über den von den Medien so gerne zitierten “wichtigen psychologischen Zeitpunkt” auf. Gibt es den wirklich? Sind Trainer lernfähig? Und wie lange darf eine Spielunterbrechung sein, bevor ein Spieler seinen Rhythmus verliert?

Hier findet Ihr sämtliche Teile des Interviews

Teil I
Teil II
Teil III (dieser Artikel)
Teil IV
Teil V
Teil VI

Vielen Dank an unseren freien Mitarbeiter “Kassenwart”, der das Gespräch mit Prof. Dr. Paasch führte.

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