Im finalen Teil unseres Interviews erläutert Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch die Unterschiede zwischen Mannschafts- und Individualsport, analysiert die Psyche verletzter Spieler und durchleuchtet die Angst des Schützen beim Elfmeter.

Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch im Interview

Stehen im Mannschaftssport die Spieler mehr unter Druck als im Individualsport? Schließlich sollen sie Verantwortung für das Team übernehmen und nicht nur für sich selbst.

Wenn man mit mehreren Leuten unterwegs ist, hat man die Chance, dass man sich ein bisschen verstecken kann. Man kann auch die Leistungsfähigkeit auf den anderen münzen, das heißt, der kann dann ein bisschen mehr machen, um das aufzufangen. Es gibt ja den Ringelmann-Effekt zum Beispiel beim Tauziehen. Da müsste ja mit der Anzahl der Personen die Kraft steigen und genau das Gegenteil ist nachgewiesen worden: Je mehr Personen ziehen, desto weniger ziehen interessanterweise die einzelnen Leute, die an dem Seil hängen.

“Was will ich heute leisten? Was sind meine Ziele?”

Wenn wir das jetzt mal auf das Spiel münzen, kann sowas natürlich auch passieren, dass also der ein oder andere sich versteckt und nicht aus sich herauskommt und auch nicht alles zeigt, weil das ja dann im Team aufgefangen wird. Oder eben nicht aufgefangen wird. Nur wenn ganz viele so denken, dann ist es eben genau das, was wir ganz oft auf dem Platz sehen: Dass Teams dann nicht funktionieren.

Also muss man immer ganz konkret reingehen und fragen: Was will ich heute leisten? Was sind meine Ziele? Was will ich zeigen? Dann ist es egal, gegen wen ich spiele und wann ich spiele. Sondern ich versuche, mein Bestes zu geben und das muss jeder auch denken und fühlen und dann ist es möglich, gesammelt daraus Kraft und Potenzial zu entfalten.

MSV Duisburg TSV 1860
Das Beste gegeben und gewonnen: die Löwen nach dem 6:0-Sieg beim MSV Duisburg

Die Psyche in der Folterkammer

Wie ist jetzt, wenn ein Spieler über Monate ausfällt und quasi zwar formal Teil der Mannschaft ist, aber eigentlich nur mit dem Physiotherapeuten in der “Folterkammer” arbeitet, um wieder fit zu werden? Was macht das mit seiner Psyche?

Zunächst ist es auch immer eine Wechselwirkung. Das heißt: Wenn der Fuß verletzt ist, hat oft auch der Kopf Schwierigkeiten, mit der Situation umzugehen. Die Jungs werden aus ihrem Leben gerissen, denn sie definieren sich über den Sport, über den Profifußball. Wenn jemand sich schwer verletzt, hat er Sorge, nicht zurückzufinden, hat Angst, sich wieder neu zu verletzen, hat vielleicht auch die Befürchtung, dass sein Vertrag nicht verlängert wird. Da hängt ja auch seine Existenz dran. Deswegen ist es sehr wichtig, nicht nur in diese “Folterkammer” zu gehen, sondern er sollte an allen Dingen teilnehmen, um auch immer das Gefühl zu haben, ein Teil der Mannschaft zu sein.

Weiterführung der sozialen Beziehung

Das bedeutet: Er muss eine soziale Beziehung weiterführen, er muss zum Training kommen, er muss sich mit dem Team auseinandersetzen. Zudem muss er auch mental an seiner Vorstellungskraft arbeiten, um auch überzeugt zu sein, wieder zurückzufinden. Weil wir natürlich dadurch, dass wir uns verletzt haben, ein gewisses Muster erarbeitet haben. Soll heißen: Wir haben natürlich Sorge, dass wir möglicherweise wieder in so eine Situation kommen. Je mehr ich die Nähe zum Team suche, je mehr ich darüber spreche, je mehr ich weiterhin ein Teil des Teams bin, desto schneller bin ich auch wieder zurück.

Das kann man aus der Forschung, aber auch der Praxis gut nachweisen. Wir müssen also versuchen, solche Spieler so stark wie möglich in den Alltag des Profisports mit einzubinden, damit sie bloß nicht die Zeit haben, über Dinge nachzudenken, die möglicherweise nicht möglich sind. Das machen sie nämlich ganz oft, weil sie so eine ungesunde Angst entwickeln, sich wieder zu verletzen, dass der Vertrag bestimmt nicht verlängert und so weiter. Genau da müssen wir helfen – als Trainer, als Spieler – und den Jungs das Gefühl geben: Du bist zwar jetzt nicht auf dem Platz, aber du bist immer bei uns und Du spielst eine tragende Rolle wie jeder andere auch.

TSV 1860 Türkgücü München
Verletzt oder nicht im Kader – Daniel Wein, Semi Belkahia & Co.besuchten das Heimspiel der Löwen gegen Türkgücü

Die Angst des Schützen beim Elfmeter

Abschließend noch eine ganz andere Frage. Situation beim Elfmeterschießen: Natürlich sind alle mental sehr angespannt. Hat es jetzt eigentlich Vor- oder Nachteile, der erste oder der letzte Schütze zu sein? Was würden sie einem Trainer empfehlen?

Es darf gar keine Rolle spielen, ob erster, zweiter, dritter oder fünfter Schütze. Es ist ein Ball, es ist ein Tor, es ist ein Torwart – und ich kann es! Punkt. Und alles andere spielt überhaupt keine Rolle, das ist genau das Problem der Lage- und Handlungsorientierung. Wenn sich jemand natürlich mit den Zuschauern beschäftigt oder ich bin jetzt der Fünfte oder ich treffe den entscheiden Elfmeter oder ich treffe ihn womöglich halt nicht, dann nehme ich Einfluss auf meine Leistungsfähigkeit. Ich fange an, Sinne zu steuern.

Fußballer sind aber pure Automatismen. Das heißt, die trainieren die ganze Woche, um sich am Wochenende gegenseitig zu vertrauen, um loszulassen und zu funktionieren. Es ist im Grunde beim Elfmeterschießen nichts anders. Man darf halt dieser Situation keinen anderen Wert geben. Sondern es ist ein Ball, es ist ein Tor,  es ist eine Situation und ich hab zwei Möglichkeiten: Ich treffe oder ich treffe nicht. Ich beschäftige mich dann mit dem Treffen, ich vertraue mir und ich schieße. Das ist alles, was ich als Instruktionen brauche.

TSV 1860 SVD98
Philipp Steinhart verwandelte im Pokal im Elfmeterschießen gegen Darmstadt 98 ebenso souverän wie all seine Kollegen

“Den Ball hinlegen, aufrichten, Tor schießen.”

Das wiederum führt dazu, dass ich mich natürlich dann auch mit dieser Kraft und mit diesem Mut an den Elfmeter heran mache. Man sieht es ja schon an dem Weg, wenn ein Spieler zum Elfer läuft. Da kann man schon sehr gut erkennen, wie sehr er überzeugt ist zu treffen. Das sieht man daran, dass die Schultern leicht nach vorne gehen, der Kopf ist geneigt, sehr nachdenkliche Situation. Das ist ein Spieler, der unsicher ist und gerade Sorge hat, nicht zutreffen. Geht aber einer ganz locker hin, Kopf ist aufgerichtet, Blick zum Torwart, legt den Ball hin, dann kann man davon ausgehen, dass er das Ding auch reinmacht.

Deshalb ist es wichtig, sich auf das zu besinnen, was geht, und nicht auf das, was nicht geht. Die Situation spielt gar keine Rolle, weil du die eh nicht beeinflussen kannst. Wenn du das versuchst, fängst Du an, über negative oder mögliche Konsequenzen nachzudenken und das hemmt dich in deiner Leistungsfähigkeit. Deswegen den Ball hinlegen, aufrichten, Tor schießen.

Fehler machen bedeutet Entwicklung

Ein schönes Schlusswort, Herr Paasch. Gibt es noch irgendwas, was sie unseren Lesern mit auf den Weg geben möchten?

Ja, grundsätzlich würde ich mir von Herzen wünschen, dass Fans, Spieler und Vereinsangehörige viel mehr aufeinander zugehen und sich vielleicht auch vielmehr gegenseitig wertschätzen. Das wir nicht immer alles nur an Ergebnissen festmachen. Denn wenn wir wirklich wollen, dass sich eine Mannschaft erfolgreich verhält, dann braucht sie18 Vertrauen. Sie braucht auch die Möglichkeit, Fehler machen zu dürfen. Denn Fehler machen bedeutet für mich Entwicklung, bedeutet Reflektion, bedeutet Veränderung. Wir sind so unfassbar fehlerorientiert. Aber Fehler erlauben bedeutet für mich wirklich auch, dass man den Zauber einer Mannschaft, eines Spielers entfachen kann. Gerade auch im Moment, wenn es nicht funktioniert, brauchen wir einander. Nicht nur im Kontext des Teams, sondern auch die Fans.

Ich wünsche mir von Herzen, dass wir uns vielmehr gemeinsam auf den Weg machen und nicht nur immer Menschen bewerten und kategorisieren und in Schubladen packen.

Vielen Dank, Herr Professor Paasch, für das tolle Interview! Es hat bei uns definitiv zu neuen Erkenntnissen geführt.

Hier findet Ihr sämtliche Teile des Interviews

Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V
Teil VI (dieser Artikel)

Vielen Dank an unseren freien Mitarbeiter “Kassenwart”, der das Gespräch mit Prof. Dr. Paasch führte.

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