Im dritten Teil unseres Interviews hatte sich Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch gestern über gestern unter anderem mit Ritualen und Extremsituationen auseinandergesetzt. Heute klärt er uns über den von den Medien so gerne zitierten “wichtigen psychologischen Zeitpunkt” auf. Gibt es den wirklich?

Interview mit Sportpsychologe Prof. Dr. René Paasch

Inwieweit wird den Sportpsychologen derzeit die Gelegenheit zum „Training“ gegeben?

Leider noch nicht so oft. Also wenn der Kollege oder die Kollegin in so einem Team ist und die Chance bekommt, ist das großartig. Aber der Alltag sieht anders aus. Meistens steht man mit an der Linie, schön warm eingepackt und schaut diesem Trainingsprozess zu. Und dann gibt es Spieler, bei denen man die Chance hat, im Einzelgespräch etwas zu machen und vielleicht auch noch in der saisonalen Vorbereitung, also im Teambuilding-Prozess. Aber diese ganze Arbeit, die eigentlich stattfinden müsste, der Raum, den ein Sportpsychologe benötigt, um umfangreich zu arbeiten, der wird nicht gegeben, da nun einmal der Schwerpunkt auf dem Platz ist.

Mein Wunsch wäre, dass man diese Dinge mit einbindet. Kommunikation, Selbstvertrauen, Konzentration – es gibt so viele schöne Felder in unserem Bereich, die man wunderbar in diesem Trainingsprozess mit einbinden kann. Dafür muss man aber offen sein. Leider ist das bei Übungseitern, die mal vor 20, 25 Jahren den Fußballtrainer gemacht haben, ganz oft nicht der Fall – es sei denn, sie haben dazugelernt.

Positive Entwicklung bei Felix Magath

Wir sehen es ja jetzt zum Beispiel bei Felix Magath. Wenn man sich mal anhört, wie er heute spricht, dann spricht er über Menschen! Er spricht über Zwischenmenschlichkeit und und und. Das hat er vor 10, 15 Jahren niemals getan. Das zeigt ja auch, dass er verstanden hat, dass es eben nicht nur über Druck und Sanktionen läuft, sondern dass man als Trainer auch viel mehr leisten muss, um seine Spieler zu erreichen.

Es ist nicht der Schlüssel für dauerhaften Erfolg, aber es ist eben die Möglichkeit, Menschen auf Augenhöhe abzuholen und sie zu begleiten in schwierigen Zeiten – aber auch in entsprechend richtig guten Zeiten.

Wann wird ein Spieler aus dem Flow rausgerissen?

Wenn ein Spieler jetzt so aus dem Flow rausgerissen wird, was meinen sie: Wieviel Sekunden oder Minuten ist es denn noch unkritisch? Also ich sag mal so, ein Spiel wird ja auch ganz normal hier und da unterbrochen mit dem Einwurf oder Freistoß. Das dauert dann mal 20 Sekunden, bis dieser ausgeführt ist oder auch eine Minute beim Freistoß. Da dürften die Spieler ja kein Problem mit haben, sich wieder sofort in den in den Spielfluss – auch mental – einzufinden. Wie ist es jetzt aber, wenn es eine längere Unterbrechung gibt, beispielsweise mit dem VAR, wo man womöglich 2-3 Minuten auf die Entscheidung wartet? Gibt es eine Grenze, wo man sagen kann, dass dadurch wirklich ein Bruch im Spiel entstanden ist?

Also körperlich nicht, auf keinen Fall. Gedanklich kann es jedoch entstehen. Deswegen ist es auch so wichtig, relativ schnell wieder ins Spiel zu kommen, am besten so schnell wie möglich den ersten Ballkontakt zu ermöglichen. Also je länger es dauert, bis wir uns wieder auf die Tätigkeit einlassen können, desto schwieriger wird es sein, sich nicht mit anderen Dingen auseinanderzusetzen. Wenn der Spieler Zeit hat, über Dinge nachzudenken, dann ist es so, dass da auch eine Kette von Ideen entsteht, von Gedanken und Bildern. Das kann durchaus dazu führen, dass man aus der Situation raus fällt und es ist schwer, wieder reinzukommen.

“Der Kopf steuert das Verhalten.”

Deswegen ist es körperlich nicht das Problem. Aber viel wichtiger ist, dass sie versuchen, ganz schnell wieder an ihre Aufgabe heran zu gehen, in die Verteidigung, den Zweikampf, die Balleroberung, den Ball fordern, also sich wieder darauf einzulassen, damit dieses Level gehalten wird. Aber dadurch, dass sie während der Belastung so viel Adrenalin und so viele Stresshormone ausschütten, hält das schon über einen längeren Zeitraum an.

Viel wichtiger ist, wie sie gedanklich damit umgehen. Der Kopf steuert das Verhalten. Erst ist der Gedanke, daraus entsteht immer ein Gefühl und aus diesem Gefühl entwickelt sich das Verhalten. Wenn jemand sich auf einmal nur mit diesem Nicht-Freistoß oder mit dieser VAR-Bestätigung auseinandersetzt, dann kann es sein, dass er abgelenkt wird und aus diesem Gefühl des Flows herauskommt.

TSV 1860 SV Wehen Wehen Wiesbaden
Psychologisch wichtiger Zeitpunkt: Semi Belkahia traf in der letzten Saison gegen den SV Wehen Wiesbaden noch vor der Pause zum 1:2. Am Ende siegten die Löwen gar mit 3:2.

Gibt es den “wichtigen psychologischen Zeitpunkt”?

Gibts denn eigentlich wirklich diesen “wichtigen psychologischen Zeitpunkt” eines Tores, wie der Fernsehreporter gerne sagt?

Ja, man kann das als “Schlüsselreiz” benennen, der einem so ein Stück Hoffnung gibt. Es gibt ja ganz oft diese Wende in einem Spiel, wenn man einfach das Gefühl hat, jetzt geht so ein Ruck durch das Team. Dafür gibt es eigentlich immer einen Auslöser. Wenn Teams sich verändern, brauchen sie einen Auslöser. Ganz oft ist dies vielleicht ein gewonnener Zweikampf. Oder es ist die Körpersprache. Der Anschlusstreffer. Oder es ist etwas, was bei der gegnerischen Mannschaft passiert, z.B. weil sie eine rote Karte bekommen.

“Diesen Trigger kann man sich erarbeiten.”

Wir brauchen ganz oft Auslöser, die getriggert sind an Verhalten, welches wir mal erlebt haben. Und wenn wir erlebt haben, dass wir uns als Team auf einmal so richtig aufrichten, weil wir einen Anschlusstreffer gemacht haben, dann sieht man ganz oft: Das funktioniert sofort! Das sind so Dinge, die man üben kann. Diesen Trigger kann man ja vorgeben und sich erarbeiten. Man kann ja nicht nur sagen, der Anschlusstreffer ist der Trigger für Veränderung, sondern auch andere Situationen.

Es gibt viele Verhaltensweisen, die so sein könnten für ein neues Verhalten. Und ich erkenne ganz oft nur, dass es immer ähnliche Dinge sind, die ein Team zu einer Veränderung führen. Das ist dann meistens, dass die gegnerische Mannschaft geschwächt wird oder man erzielt einen Anschlusstreffer. Man kann sich aber diese Schlüsselreize auch anders erarbeiten, ohne dass man das immer koppelt an einer erfolgreichen Situation auf dem Platz.

20 % der Energie werden durch den Kopf beansprucht

Lassen die Spieler mit der Zeit eher physisch oder eher psychisch nach?

Auch da ist es eine Wechselwirkung. Natürlich spüren wir Energieverlust. Wir benötigen Energie für die Leistungsfähigkeit – auch der Kopf. Allein 20% der Gesamtenergie, die wir am Tag zuführen. 20%! Und wenn sie aktuell davon viel mehr benötigen als ihnen gerade zur Verfügung steht, dann steht so ein inkohärentes Verhalten auf der Kopfebene.

Das heißt, der Kopf versucht ständig nach Lösungen zu suchen, findet aber keine und muss unglaublich viel Energie verbrauchen und dann erschöpft der Kopf irgendwann.

“Der Körper ist extrem leistungsfähig.”

Wenn ein Sportler das Gefühl hat, dass er körperlich gerade nicht mehr kann, dann würde der Körper trotzdem weitermachen, wenn der Kopf diese Entscheidung trifft. Beispiel: Wir laufen los und wir merken irgendwann, dass die Beine zu machen. Die Beine bleiben nicht stehen, die Beine würden weiterlaufen. Der Kopf trifft die Entscheidung, dass wir nicht weitermachen möchten.

Wenn ich also Teams habe, die ganz besonders auffällig die letzten 20, 30, 40 Minuten nicht zu Ihrer Leistungsfähigkeit finden, weil sie müde wirken, dann ist es  oft der Kopf und nicht der Körper. Der Körper ist nämlich extrem leistungsfähig. Selbst wenn Sie mal die nächsten Tage nicht essen würden und würden einen Marathon laufen, könnten Sie mit ihren Reserven – und das ist unabhängig davon, ob man mehr Körpergewicht hat oder nicht – fast ein oder zwei Marathons laufe. So viel Energie hätten Sie noch im Körper, wenn Sie diese mobilisieren können. Und ganz wichtig: Wenn Sie davon überzeugt sind, dass Sie das können!

Der Kopf ist also der Entscheider für 90 + 3 und nicht der Körper. Die Mannschaften haben genug Athletiktrainer. Die machen extrem viel, um fit zu sein. Es ist die Entscheidung auf der Kopfebene. Wenn das Netzwerk da oben, der Captain, die Entscheidung trifft “ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr”, dann hören auch die Beine auf, nicht umgekehrt.

Wie geht es im fünften Teil weiter?

In Teil V befasst sich Prof. Dr. René Paasch mit dem Spielerkreis vor bzw. nach dem Spiel, durchleuchtet die Folgen von Negativerlebnissen und stellt die besondere Position von Führungsspielern heraus.

Hier findet Ihr sämtliche Teile des Interviews

Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV (dieser Artikel)
Teil V
Teil VI

Vielen Dank an unseren freien Mitarbeiter “Kassenwart”, der das Gespräch mit Prof. Dr. Paasch führte.

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