In Kharkiv hatte Stefan den 2:1-Sieg der deutschen Elf gegen die Niederlande mitverfolgt und reiste anschließend weiter in die Hauptstadt Kiew. Viel Spaß mit Teil 3 des Groundhopping Trips durch die Ukraine! Nochmal der Hinweis: Der Bericht wurde bereits vor der russischen Invasion erstellt. Die verwendeten Städtenamen entsprechen der damals gültigen Bezeichnung, welche üblicherweise an die russische Nennung angelehnt sind. Die korrekte – ukrainische – Schreibweise der Städte lautet Lwiw, Kyiv, Charkiw und Donezk.

England – Schweden 3:2
15. Juni 2012, Olympiastadion Kiew
Vorrunde Gruppe D

Nach einer erneut kurzen Nacht kam ich ziemlich früh in der Hauptstadt Kiew an und warf dort meine Sachen erneut in ein Guerilla-Hostel, dieses Mal im Keller eines Wohnbunkers in einem Vorort.

Bei der dritten Station meiner Reise bemerkte ich zum ersten Mal die Veränderung: Es sprachen wieder mehr Leute Englisch, in der Innenstadt gab es mehr Fast-Food-Ketten und auch die Architektur erschien nicht mehr so „klobig kommunistisch“. Obwohl Kiew eine wunderschöne Stadt ist, bemerkte ich, wie sehr ich vom Osten weg, sprichwörtlich in Richtung Westen gefahren war.

In Kiew war die gesamte Innenstadt zur Fanzone umfunktioniert worden und reichte vom Olympiastadion „Національний спортивний комплекс «Олімпійський» bis zum „Platz der Unabhängigkeit“, dem Majdan Nesaleschnosti. Auch die umliegenden Bars und Kneipen wurden in die Fanmeile integriert.

Protestcamp in der Fanzone

Mitten in der Fanzone befand sich außerdem das Protestcamp der politischen Opposition, in dem unzählige Anhänger von Julija Tymoschenko für deren Freilassung demonstrierten. Nach ein paar Gesprächen wurde mir sogar ein T-Shirt mit ihrem Konterfei geschenkt. Allerdings wurde mir geraten, es nicht zum Spiel anzuziehen.

Die etwa anderthalb Kilometer lange Prachtstraße „Kreshatyk“ war voll mit Fußballfans aus aller Welt. Auf der einen Seite standen die Schweden und soffen und sangen, auf der anderen Seite standen die Engländer und soffen. Und zwischendrin standen Deutsche, Russen, Ukrainer und sonstige Leute aus der ganzen Welt – und soffen und sangen. Es war ein gigantisches, tolles und friedliches Fest. Auch ein starker Regenschauer änderte nichts an der Feier, im Gegenteil: Er verursachte nicht nur eine Spielverschiebung um eine Stunde, sondern auch einen Stromausfall. Ein Straßenkünstler hat die plötzliche Stille genutzt, sich mit seiner Gitarre auf eine Bierbank gestellt und „Wonderwall“ von Oasis angestimmt. Gefühlt die ganze Straße hat mitgesungen und sich danach wieder friedlich dem Bier gewidmet. Engländer und Schweden auf einem Fleck zusammen in der Ukraine. Friedlich und absolut geil!

Schwedische Fans Vor Dem Match
Schwedische Fans vor dem Match

Fußball verbindet

Der Unabhängigkeitsplatz Maidan ist von mehreren stalinistischen Gebäuden eingerahmt. Am südlichen Ende befindet sich das berühmte Hotel Ukrajina. Ich sitze mit meinen neuen Freunden von Aston Villa am Straßenrand und wir feiern mit Tausenden anderen Menschen ein Fußballfest. Wenige Monate später – im Dezember 2013 – wird der Maidan Schauplatz schwerer Gefechte zwischen Regierungstruppen und der Opposition. Über 80 Menschen verloren an diesem Ort ihr Leben beim Versuch, die Ukraine noch weiter Richtung Westen zu lenken. Die Gefechte am Maidan gipfelte in der Annexion der Krim durch Russland und werden im Osten der Ukraine bis heute weitergeführt.

Für mich ist Fußball ein Sport, der Menschen zusammenbringt. „Fußball verbindet“, sagt mein alter Freund Woife bei jeder sich bietenden Möglichkeit und er hat Recht damit. Das große Fest bei diesem Spiel der EM 2012 an diesem Ort ist eines der besten Beispiele dafür, wie gut es der Sport schafft, Menschen gemeinsam feiern zu lassen. Er bringt Kulturen und Völker zusammen, denn über alle Vereinsfarben hinweg sind Fußballfans in ihrer Freude und in ihrer Trauer (über ein verlorenes Spiel) überall gleich. Der Tag am Maidan war einer der schönsten in meinem Fanleben. Und er wurde durch die Bilder, die Monate später in der Tagesschau gezeigt wurden, umso einprägsamer: Politische Wirrungen und Konflikte bringen Menschen immer wieder gegeneinander auf und schüren Hass und Neid. Es ist der Fußball, der sie immer wieder zusammen bringt und gemeinsam feiern oder trauern lässt. Für solche Tage wie den 15. Juni 2012 liebe ich den Fußball.

20.000 Schweden in Kiew

Relativ spät erst bewegte ich mich zum Olympiastadion. Seinen Namen hat die für 70.000 Leute generalsanierte Schüssel daher, weil sie 1980 bei den Olympischen Spielen von Moskau Austragungsort des Fußballturniers war. Zwei Wochen später fand zudem in diesem Stadion das Finale der EM zwischen Italien und Spanien statt.

Schweden durfte als Gruppenkopf alle Spiele in Kiew austragen, daher hatten auch mehr als 20.000 schwedische Anhänger in der Stadt ihr Lager aufgeschlagen. England war mit etwa 3.000 Leuten angereist.

Die Stimmung beim Spiel war einfach bombastisch. Die englischen Fans gaben ihr gesamtes Gesangsrepertoire zum Besten, wurden aber regelmäßig von den Schweden (alle ausnahmslos in gelb gekleidet) übertönt. Was ziemlich geil ist, und was ich sonst noch nirgends erlebt habe: Schwedische Fans warten erst ab, was der Gegner singt, und singen dann dasselbe Lied weiter. Nur in ihrer Sprache und viel lauter. Nicht nur einmal wurde so den Engländern gezeigt, wo der Bartl an Most holt.

Siegesgewisse Engländer Stimmen Sich Ein
Siegesgewisse Engländer stimmen sich ein

England setzt sich knapp durch

Auch auf dem Platz ging der Punk ab: England hatte erst einen Punkt, Schweden noch gar keinen. Beide benötigten also unbedingt einen Sieg, um im Turnier zu bleiben, und so war das Spiel kampfbetont und intensiv. England führte zur Halbzeit 1:0, Schweden lag in der Sechzigsten mit 2:1 vorne, England schoss 10 Minuten vor Ende das 3:2, was die mitgereisten Fand total zum Ausrasten brachte. Mein Kumpel Kevin erzählt heute noch davon, dass er gar nicht weiß, wie er nach dem Tor plötzlich auf die Laufbahn des Stadions gelangen konnte.

Schweden war also raus und die Elf von Roy Hodgson war weiter im Turnier. Die Party in der Innenstadt sollte jetzt so richtig starten. Leider konnte ich den darauffolgenden Tag nicht zum Sightseeing nutzen, denn ich wurde schon früh von Leschi mit den Göppinger Löwen in seinem Auto aufgegabelt. Den Rest der Strecke nach Lviv legte ich nicht im Zug zurück, sondern bequemer im PKW. Aber ich werde ja – so Jogi will – in zwei Wochen wieder zum Finale hier sein und mir dann in Ruhe die Stadt ansehen.

Über Lviv nach Warschau

Auf dem Rückweg habe ich mir noch das deutsche Spiel gegen Dänemark in Lviv (habsburgerisch: Lemberg) und das Halbfinale gegen Italien in Warschau angesehen, aber auf die will ich jetzt nicht im Detail eingehen. Bis heute habe ich es aber ärgerlicherweise nicht wieder nach Kiew geschafft. Wobei mich die Stadt weiterhin fasziniert. Und ich vor allem unbedingt auch mal in die Todeszone von Tschernobyl fahren will, die mit einem Tagesausflug zu erreichen ist.

Auf der Weiterfahrt habe ich mir dann auch noch das Gruppenspiel der Deutschen gegen Dänemark in Lviv (habsburgerisch: „Lemberg“) angesehen, und bin auch noch zusammen mit Robert und Stefan zum Halbfinale gegen Italien nach Warschau – dem berühmten Spiel mit dem Muskelprotz Balotelli. Aber das sind andere Geschichten und sollen wann anders erzählt werden.

Teil 1
Teil 2
Teil 3 (dieser Artikel)

Groundhopping mit Stefan

Stefan berichtet von seinen Reisen zu Fußballspielen in aller Welt. Die Vorstellung von ihm und einige ausgewählte Fußballreisen findet ihr hier.

Hier die Reiseberichte von Stefan, die bislang auf sechzger.de veröffentlicht wurden:

Groundhopping Bukarest / Rumänien – Stadionul Dinamo – Bericht hier
Groundhopping Mazedonien bzw. Nordmazedonien -Bericht hier
Groundhopping Armenien in Jerewan – Bericht hier
Groundhopping Thailand in Bangkok – der Bericht

Der Maidan In Kyiv
Der Maidan in Kyiv
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