Im Rahmen unserer Groundhopper-Serie berichtet Euch unser Leser Stefan heute über Groundhopping in Saudi-Arabien. Was vor 2019 noch gänzlich unrealistisch erschien, hat er zusammen mit seinem Freund Michael Stoffl direkt nach der Öffnung der saudischen Grenzen in die Tat umgesetzt. Viel Spaß beim Lesen und Eintauchen in eine fremde Welt!
Offene Grenze nach 40 Jahren Isolation
Einmal jährlich wird im Sommer der sogenannte “Henley Passport Index” ausgeworfen. Mit diesem Index werden die stärksten Reisepässe bewertet, also jene, mit denen man weltweit die meisten Länder visumsfrei besuchen kann. Als Besitzer eines deutschen Reisepasses konnte man 2019 laut dem Index 187 der 196 Länder ohne Probleme besuchen. Nur Südkoreaner und Japaner sind in mehr Staaten willkommen. Zu den Ländern, die man nicht (oder nur sehr schlecht) bereisen kann, zählen traditionell solche wie Turkmenistan, Libyen oder Eritrea. Und im Sommer 2019 auch noch Saudi-Arabien.
Vollkommen überraschend öffnete das Königreich im September 2019 nach fast 40 Jahren Isolation seine Türen jedoch für Touristen aus 49 Ländern, darunter auch Deutschland. Jetzt heißt es schnell sein, wenn man das Land noch ohne Touristenmassen und Massentourismus erleben will. Und wenn man einen der eher schwer zu erreichenden Länderpunkte machen will. Innerhalb einer Woche war mit dem Globetrotter Michael aus Berlin (bekannt als der Löwe, der als einziger das Amateure-Trainingslager 2016 in Indien besuchte) ein Mitfahrer gefunden, das Visum beantragt und genehmigt und ein Flug über Istanbul gebucht. Und am Heiligabend 2019 ging es dann los.
Ein Land im Umbruch?
In Saudi-Arabien herrscht absolutes Alkoholverbot. Als Gesetz gilt die Scharia und das öffentliche Ausführen der Todesstrafe war bis vor kurzem noch an der Tagesordnung.
Mit dem „Projekt 2030“ will sich KSA jedoch öffnen, für westliche Investoren und Touristen interessanter werden und sich wieder positiver darstellen. So wurde die berüchtigte Scharia-Polizei abgeschafft, Hinrichtungen zumindest nicht mehr öffentlich durchgeführt und mittlerweile dürfen sogar Frauen Auto fahren.
Der Tourismus steckt im Winter 2019 allerdings noch in den Kinderschuhen und nur wenige Hotels oder Sehenswürdigkeiten wissen, wie sie mit den neuen Gästen umgehen sollen. Westliche Besucher sind üblicherweise Botschaftsangehörige oder teuer angeworbene Ingenieure und die haben normalerweise andere Interessen als fußballbegeisterte Unesco-Hopper. So wirklich einfach war es also nicht, aber dennoch haben wir die Woche in der Hauptstadt Riad intensiv genutzt, um uns Hochhäuser, Dattelplantagen, Museen, Kulturerbestätten, traditionelle Dörfer oder berühmte Hinrichtungsplätze anzusehen.
Überraschende Besucher aus Deutschland
Die Verkäufer im Basar von Riad waren sogar derart überrascht vom unerwarteten Besuch von Touristen, dass sie uns ihre Teesorten oder Weihrauchangebote einfach schenkten, anstatt wie gewohnt um sie zu feilschen.
Zu Irritationen führte jedoch teilweise die strikte Trennung zwischen Mann und Frau in nahezu allen öffentlichen Gebäuden, wie etwa in Restaurants, sowie die strikte Einhaltung der Gebetszeiten fünfmal am Tag, während denen das gesamte Leben komplett zum Erliegen kommt.
Groundhopping in Saudi-Arabien
Am vierten Tag stand dann endlich der Besuch des ersten Fußballspiels auf der Tagesordnung – der Start von Groundhopping in Saudi-Arabien:
28.12.2019
Al Shabab – Al Ahli 1:0
Saudi Premiere League
Prince Faissal bin Fahd Stadium Riyhad
Eigentlich sollte das Spiel im Nationalstadion ausgetragen werden, kurzerhand wurde es aber ins “kleine” Prince Faissal Stadion in der Stadt verlegt. Von der Verlegung haben wir gerade noch durch Zufall erfahren, weder die renommierten Sportzeitungen, noch die Bewohner Riads hatten das Spiel wirklich auf dem Schirm. Tatsächlich waren zum Anpfiff um 17:50 Uhr dann knapp 12.000 Zuschauer im Stadion, wobei auch Al Ahli aus Dschidda einen guten Fanblock mitgebracht hat. Frauen sind im Fanblock nicht erlaubt, sondern dürfen sich nur gemeinsam mit ihren gesetzlichen Vertretern in einem separaten Familienblock aufhalten. Dort sind auch die Ordner weiblich.
Die Stimmung war gut und ausgelassen, Al Shabab ist mit einer gute Plastikfahnen-Choreo aufgewartet, wobei Al Ahli in grün hauptsächlich Lärm mit Trommeln und einer eigenen Megafonanlage machte. Die ganze Situation erschien mir so, als wäre der Besuch eines Fußballspiels die einzige Möglichkeit für die Bewohner des streng muslimischen Landes, mal so richtig aus sich rauszugehen. Die ungewöhnliche Anstoßzeit war übrigens auf die allgemeinen Gebetszeiten ausgerichtet: Kurz vor Anpfiff rief bereits der Muezzin und auch zur Halbzeit sind die Fans gesammelt auf den Allgemeinteppich im Stadionumfeld gepilgert, um zu beten – natürlich erst, nachdem sich alle im Stadionklo die Füße gewaschen hatten.
Kantersieg des Champions League-Siegers
30.12.2019
Al Hilal – Al Adalah 7:0
Saudi Premiere League
King Saud University Stadium
Gastgeber Al Hilal war vor 4 Wochen erst asiatischer Champions League Sieger geworden, in den beiden Finalspielen konnte man sich gegen die Urawa Red Diamonds aus Tokio mit 1:0 und 2:0 durchsetzen. Da der Turniersieg auch zur Teilnahme an der FIFA Club-WM in Katar berechtigte, ist der ganze Spielplan durcheinander gewürfelt worden, und unser Heimspiel im vereinseigenen “King Saud University Stadium” war der erste Auftritt der Elf seit dem CL-Sieg. Das Spiel war daher (mit Ausnahme des überdimensionierten Gästeblocks) ausverkauft und wir hatten kurzfristig ein Ticketproblem. Gott sei Dank konnten wir Kontakte zu den Ultras “Blue Power Al Hilal” aufnehmen, die uns kostenlos mit ins Stadion schleusten. Die Fans von Al-Hilal machten wieder ordentlich mit Trommeln, Megafonen und einer großen Fahnenshow zum siebten CL-Sieg Rabatz, von Al Adalah waren überhaupt keine Fans da.
Das Gästeteam war auch hoffnungslos unterlegen und verlor gegen den “FC Bayern Saudi-Arabiens” hochverdient mit 7:0. Höhepunkt des Spiels war die Verletzung des slowenischen (!!!) Schiedsrichters in der 81. Spielminute, der verletzt runter musste und vom vierten Offiziellen ersetzte wurde. Am Ergebnis vor knapp 15.000 Zuschauern änderte das nichts.
Corona schließt die Grenzen wieder
Insgesamt haben wir eine knappe Woche in Riad und Umgebung verbracht. Ob es Saudi-Arabien wirklich schafft, Touristen dauerhaft anzulocken, weiß ich nicht, dafür müsste das Land nämlich noch einiges tun. Trotzdem bin ich froh, mir diese Region zu einem sehr frühen Zeitpunkt angesehen zu haben und ich bin sehr gespannt auf die weiteren Entwicklungen.
Jedoch hat Saudi-Arabien ein paar Wochen nach unserer Abreise coronabedingt wieder die Grenzen dicht gemacht. Wie es mit dem Tourismus und den Reisemöglichkeiten also weiter geht, steht derzeit in den Sternen. Rückblickend haben wir also ein sehr kurzes Zeitfenster genutzt, in dem es überhaupt mal möglich war, das Königreich zu besuchen.
Groundhopping auf sechzger.de
In den letzten Monaten erschienen bereits einige Groundhopping-Artikel auf sechzger.de. Hier eine kurze Übersicht:
Groundhopping Rumänien
Groundhopping Mazedonien bzw. Nordmazedonien
Groundhopping Armenien
Groundhopping Thailand
Groundhopping Ukraine
Groundhopping Kuba
Groundhopping Montenegro
Groundhopping Indien
Groundhopping Kirgisistan
2019 lief das Saudi Arabische Bombardement des Jemen bereits auf Hochtouren. Keinerlei Erwähnung dessen, geschweige denn eine kritische Auseinandersetzung mit der anhaltenden Militäroffensive, ist meiner Meinung nach schon schwach. Zumal die Angriffe sich gezielt gegen zivile Infrastruktur (Krankenhäuser, Schulen, etc.) richten, disproportional viele Kinder umbringen (~70% der bisher ca. 372.000 Todesopfer sind <5 Jahre alt, lt. Studie der University of Denver) und die größte humanitäre Katastrophe der Welt (!) auslösten. 22 der 30 Millionen Jemeniten leiden Hunger, der größte je aufgezeichnete Cholera-Ausbruch wurde durch die direkten Folgen des saudischen Bombardements überhaupt erst ermöglicht.
Zusätzlich finanziert Saudi Arabien erwiesenermaßen im großen Stile islamistische (Terror-)Milizen wie den IS und der Fall Jamal Khashoggi ereignete sich auch bereits 2018.
Solch einen naiven Bericht zu schreiben, sich lediglich hinsichtlich Scharia, Todesstrafe und Unterdrückung der Frau kritisch zu äußern, jedoch gleichzeitig erwähnen, dass des ja eh scho alles auch besser geworden ist, lässt mich stutzig zurück. Zudem wird die MBS-Propaganda der vermeintlichen gesellschaftlichen Liberalisierung des Landes im Zuge des Projekt 2030 gänzlich unkritisch übernommen.
Freilich muss ein jeder selbst entscheiden, welche Länder er besucht und ob Menschenrechte in der Reiseplanung eine Rolle spielen sollen – letzteres ist ein Privileg, dessen man sich oftmals nicht ganz so bewusst ist. Aber ich wage mal zu bezweifeln, dass der Autor sich morgen auf den Weg nach St. Petersburg setzen würde, um dort über ein Fußballspiel zu berichten, ohne ein Wort über den Ukraine-Konflikt zu verlieren.
Mich enttäuscht's schon arg.
Bloß mal so nachgefragt: In die USA dürfen wir also dann auch nicht mehr, oder? Die US-Luftwaffe hat im im jemenitischen Bürgerkrieg auch mehrere Luftangriffe geflogen und die vormalige Bundesregierung lieferte für Milliardenbeträge Rüstungsgüter an Saudi Arabien mit der Begründung, dass dieses Land ein stabilisierender Faktor in der Region ist. Müssen wir über den Sachverhalt jetzt auch bei jedem Löwen-Heimspiel berichten?
Ganz ehrlich, ich habe schon öfters versucht diesen Bürgerkrieg und seine verschiedenen Gruppierungen und Interessen zu verstehen. Aber das ist so komplex, dass mir spätestens nach 10 Minuten Lektüre der Kopf raucht. Allgemein spricht man ja von einem Stellvertreter-Krieg zwischen den regionalen Großmächten Saudi-Arabien und dem Iran. Aber je tiefer man da rein schaut, desto komplexer und verworrener wird das.
Was ich damit sagen will: Natürlich ist der Bericht sehr unpolitisch geschrieben und die Frage ist natürlich auch berechtigt, ob man wie ein normaler Tourist nach Saudi-Arabien reisen sollte. Dennoch solltest Du aufpassen, nicht zu schnell in Selbstgerechtigkeit zu verfallen, denn bei dem Maßstab müsstest Du wohl auch hier demnächst Deine Staatsbürgerschaft aufkündigen.