Unser Leser Stefan war mal wieder auf Reisen und machte diesmal einen Abstecher nach Nordafrika. Seine Leidenschaft Groundhopping führte ihn dabei auch in zwei Stadien in Tunesien, aber auch Kultur und urbanes Leben kamen dabei nicht zu kurz. Viel Spaß beim Lesen!
Geplantes Derby kurzfristig verlegt
Auf der Suche nach einem hochklassigen Stadionbesuch über die Winterferien stach ziemlich bald das Derby in Tunis zwischen den Rivalen Esperance de Tunis und Club Africain ins Auge, das schon früh für den 28.12. Dezember terminiert worden war.
Für den Trip nach Tunis begeisterte sich eine Gruppe von vier Freunden von Sechzgern und Hannoveranern, die nach erfolgreichem Abschluss der Familien- und Fressfeierlichkeiten am 27.12 den Flieger in die Hauptstadt des “ältesten Staats Afrikas” besteigen sollte.
Für den Aufenthalt in Tunis waren drei Nächte eingeplant, die letztendlich auch notwendig wurden, da das emotionale Derby dann doch um eine Woche nach vorne verschoben wurde. This is Africa …
Groundhopping Tunesien
Auf das von uns anvisierte Wochenende wurden dennoch kurzfristig noch zwei Spiele angesetzt, die beide am selben Tag im Großraum Tunis stattfinden sollten und laut Google Maps auch “locker” mit dem Taxi machbar sein sollten.
JS Omrane – AS Gabès 2:2
Ligue 1, 13. Spieltag, 28.12.2024 (14:00), Stade Chedly-Zouiten
5 Euro Eintritt wurden uns für diesen Kick vor weniger als 200 Zuschauern abgenommen, bei dem wir Touristen zu allem Überfluss auch noch in einen separaten Block gesteckt wurden, in dem sich bereits etwa 30 andere zentraleuropäische Hopper-Gestalten einfanden. Offensichtlich hatten mehr Leute den reizenden Gedanken eines feurigen Derbies und wurden nun mit Magerkost bedacht. Denn das Spiel und die Stimmung der Tabellennachbarn von den Plätzen 10 und 11 war mehr als lau und die gastronomischen Angebote unterirdisch. Aber das Highlight des Tages sollte ja noch anstehen und so machten wir uns relativ zeitnah auf die Suche nach einem Taxi, das uns in Schneckentempo zum Olympiastadion bringen sollte. Mangels ÖPNV waren viele Fans mit dem Auto auf dem Weg in den Südteil der Stadt, was zu einem enormen Verkehrschaos führte und uns etwas in Schwierigkeiten brachte.
Club Africain – Bizertin 1:0
Ligue 1, 13. Spieltag, 28.12.2024 (16:30 Uhr), Stade Olympique Radès
Die Tickets für das Spiel hatten wir bereits vorab online beim Club Africain bestellen können. 18 Euro sind 60 Dinar für eine Haupttribünenkarte – diese Umrechnung war ein Wink mit dem Zaunpfahl und wir entschieden uns natürlich für die teuerste Kategorie. Die Tickets konnten wir am Vorabend am Vereinsheim des Clubs abholen und bekamen dabei noch eine kleine, freundliche Führung durch die Räumlichkeiten. Bereits seit 1920 existiert der größte Verein des Landes, der damals nur mit Argwohn der französischen Besatzer zugelassen wurde, da er als Hort der Antikolonialisten angesehen wurde. Bereits einmal, 1917, war der Verein deswegen verboten worden. Mittlerweile stehen 13 Meisterschaften, 13 Pokalsiege und ein Sieg der afrikanischen Champions League im Jahr 1991 zu Buche. Mit den 1995 gegründeten “African Winners” verfügt der rot-weiße Verein über die älteste Ultragruppe Afrikas. Der größte Konkurrent ist Lokalrivale Espérance de Tunis (“Hoffnung”) in rot-gelb, welcher bereits 1919 gegründet wurde und dessen erster Präsident ein Franzose war. Als einer der erfolgreichsten afrikanischen Clubs darf ES auch diesen Sommer an der umstrittenen Club-WM in den USA teilnehmen und trifft dort auf Flamengo Rio de Janeiro, Club Leon aus Mexiko und den FC Chelsea.
“Vereinigt euch, widersteht und gewinnt”
Langer Rede, wenig Sinn: Mit unseren frühzeitig erworbenen Haupttribünenkarten wurden wir mühsam (und begleitet von einigen Ausweiskontrollen) auf die teuersten Plätze des Stadions geführt, wo unsere nummerierten Sitze natürlich weder auffindbar noch nutzbar waren. Ausnahmslos alle Stadionbesucher – was mit Ausnahme von etwa 10 Gästeanhänger ausschließlich CA-Fans waren – feuerten ihr Team im Stehen an. Auch die Haupttribüne, auf der wir relativ weit vorne Platz fanden, machte hierbei keine Ausnahme, und so fanden wir uns sehr schnell in einer hüpfenden, schreienden und klatschenden Meute wieder, bei der wir uns aufgrund einer uns nicht bekannten, aber deutlich zu spürenden Anspannung im Stadion eher beklemmt vorkamen. Keiner von uns vieren ist der arabischen Sprache mächtig und ich mag ehrlich zugeben, dass ich bei dem Klang der Sprache nicht erkenne, ob die Gemüter erhitzt sind oder die Stimmung kurz vor der positiven Ekstase steht.
Erstaunlicherweise machte die Ultra-Kurve im Gegensatz zu Haupt- und Gegengerade eher weniger Rabatz und zeigte lediglich ein Transparent, das mein Google-Foto-Übersetzer sinngemäß mit “Freiheit und Gerechtigkeit für Ultras” übersetzte. Zu unserer vollkommenen Verwunderung leerte sich bei der Führung von 1:0 zur Halbzeit dann auch diese Ultra-Kurve komplett und wurde lediglich mit einem überdimensionalen Banner mit der (wiederum frei übersetzten) Aufschrift “Vereinigt euch, widersteht und gewinnt” gefüllt. Die Kurvenbesucher verteilten sich dann im Rest des Stadions, wodurch Haupt- und Gegengerade noch voller wurden, sich die Zahl der Flaschenwürfe in allen Stadionbereichen drastisch erhöhte und auch Bengalfeuer an Orten abgefackelt wurden, die wir vorher nicht in Erwägung gezogen hatten. Höhepunkt hierbei war ein junger Vater in der ersten Reihe der Haupttribüne, der seinen geschätzt fünf Jahre alten Sohn auf die Schultern nahm und ihm ein brennendes Bengal in die Hand drückte. Episch!
Heimsieg für den Club Africain
Unser Stehnachbar auf den Sitzplätzen, bei dem sich herausstellte, dass er aufgrund einiger Jahre in Düsseldorf Deutsch sprach feierte, dass wir vor Ort im Stadion waren, erklärte uns die Situation: Einerseits wurde das kurzfristig vorgezogene Derby eine Woche vorher mit 0:3 verloren, was zu etwas Unmut geführt hat. Andererseits jährte sich genau heute der Todesfall eines Ultra-Capos, der durch eine Polizeikugel das Leben verloren hatte und dessen Todesumstände nie gerichtlich verfolgt wurden. Für die Richtigkeit dieser Interpretation konnte ich aber keine belastbaren Quellen finden und möchte meine Hand dafür auch nicht ins Feuer legen.
Der Tabellendritte Club Africain gewann letztendlich gegen den Drittletzten Bizertin mit 1:0, was die Fans im Stadion wieder einigermaßen versöhnte. Nach Abpfiff und Abmarsch in die Dunkelheit hielten wir uns aufgrund der Masse an euphorisierten Jugendlichen bedeckt und suchten uns eine nahegelegene Tankstelle, von wo aus uns ein Taxi zurück zu unserem Hotel ins französische Viertel bringen sollte. In der Hotelbar gabs dann noch ein paar Bier zur Feier dieses erfolgreichen Fußballtages.
Beeindruckende Stadt, aber Verkehrschaos
Drei Nächte blieben wir in Tunis und haben dabei nicht nur Fußball geschaut. Als Altstadt ragt die Medina von Tunis heraus. Als eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Städte der islamischen Welt ist sie mit ihren unzähligen verwinkelten Gassen, den unzähligen Händlern, Farben und Gerüchen ein absoluter exotischer Traum. Eine Führung durch dieses Wirrwarr, das auch Blicke hinter die Fassaden ermöglicht, ist absolut zu empfehlen. Direkt an die Medina grenzt das französische Viertel. Die Neustadt aus der Zeit der französischen Besatzung, die bis 1956 bestand, ist geprägt durch breite Boulevards und französische Architektur. Als Zentrum dieses Stadtteils gilt weit sichtbar der Uhrenturm, der sich in direkter Achse zum Eingang der Medina befindet. Nur etwa eine halbe Autostunde entfernt von Tunis findet man zudem die Ruinen der ersten Stadtgründung durch die Phönizier. Deren Hauptstadt Karthargo wurde durch den römischen Kaiser Cato dem Älteren bekanntermaßen zerstört – was heute noch jeder weiß, der mal Latein in der Schule hatte.
Als Transportmittel empfiehlt sich die Nutzung von Taxen, ferner auch von Uber-ähnlichen Angeboten, allen voran Bolt. Der Straßenverkehr ist eine absolute Katastrophe und kann fast mit den Verhältnissen von Neu-Delhi verglichen werden, meines Erachtens weit anstrengender als Bangkok oder Istanbul. Augen auf bei der Wahl der richtigen Bolt-Fahrer: Ein Stern mehr in den Bewertungen kann dein Leben retten, Auffahren mit Lichthupe bei fünf Metern Abstand und 140 Stundenkilometern sind hier eher Kavaliersdelikte.
Auf zum nächsten Abenteuer!
Preislich befindet sich Tunis weit unter deutschem Standard. Ein Mittag- oder Abendessen kann man für etwa 5 Euro genießen. Das Bier in der Hotellobby kostet knapp 3 Euro. Eine Taxifahrt für eine Halbe Stunde schlägt ebenfalls mit 5 Euro zu Buche. Die Nacht im Doppelbett im einst luxuriösen Hotel Majestic (in dem neben Richard Nixon und Francois Mitterand auch bereits der indonesische Diktator Suharto sowie die Wehrmacht während dem Afrikafeldzug nächtigten) kostet 40 Euro.
Nach drei Tagen vollgepackt mit Fußball, Hotellobbybier, Kultur und Sightseeing sowie wilden Taxifahrten ging es für uns “international agierende Fußballfans” nach dem Kapitel “Groundhopping Tunesien” weiter zum nächsten Abenteuer. Aber wo das ist und was wir da erlebt haben, erfahrt Ihr in der nächsten Geschichte.
Groundhopping auf sechzger.de
In den letzten Monaten erschienen bereits einige Groundhopping-Artikel auf sechzger.de. Hier eine kurze Übersicht:
Groundhopping Rumänien
Groundhopping Mazedonien bzw. Nordmazedonien
Groundhopping Armenien
Groundhopping Thailand
Groundhopping Ukraine
Groundhopping Kuba
Groundhopping Montenegro
Groundhopping Indien
Groundhopping Kirgisistan
Groundhopping Saudi-Arabien
Groundhopping Antarktis (Südgeorgien)
Groundhopping Kolumbien
Groundhopping Indonesien
Groundhopping Laos
Groundhopping Georgien
Groundhopping Sansibar
Groundhopping Moldawien/Transnistrien
Groundhopping Nordkorea
Groundhopping Bulgarien
Groundhopping Senegal
Groundhopping Gambia
Groundhopping Guinea-Bissau
Groundhopping Frankreich
Groundhopping Kosovo & Nordmazedonien
Groundhopping Bosnien
Groundhopping Taiwan
Sehr schöner Bericht! Danke!
Einerseits wurde das kurzfristig vorgezogene Derby eine Woche vorher mit 0:3 verloren, was zu etwas Unmut geführt hat. Andererseits jährte sich genau heute der Todesfall eines Ultra-Capos, der durch eine Polizeikugel das Leben verloren hatte und dessen Todesumstände nie gerichtlich verfolgt wurden.
Das Stimmt gar nicht: Derby endete mit 2-2 problemlos.. es gab keine Todesfälle weder klatschen mit der Polizei.. der Protest war für 2 Gründen:
1.Die Choreo von ES Tunis im Derby wurde von der Polizei verboten wegen Inhalt und die Bannern von Ultras Club Africain waren zur Solidarität mit den Rivalen Ultras. (Siehe African Winners Facebook Seite).
2. die Behörden nur die Gastgeber Zuschauern im Stadion beim Derby reingelassen haben.
Fazit: Manche Tunesier haben wenig Action im Leben und übertreiben oder erfinden Geschichten
.
Ich folge täglich die Fußball und Ultras Szene in Tunesien .
Geiles Bericht und weiter so und hoffentlich schafft ihr im April/Mai beim Rückrunden Derby es dabei zu sein.
Danke fürs Feedback. Das Spielergebnis hätte ich tatsächlich selbst noch korrekt recherchieren können. Mea Culpa.
Ansonsten vielen Dank für die Aufklärung! Aktuell ist nicht geplant, das Rückrundenderby zu besuchen. Aber falls du hin fährst würde ich mich gerne über einen Bericht freuen!
Censeo carthaginem esse delendam. Schöner Bericht. 💙