Vergangene Woche berichtete Euch unser Leser Stefan von seinen Erlebnissen in Tunesien – und tatsächlich war das der bislang meistgeklickte Groundhopper-Bericht hier auf sechzger.de. Mit “Groundhopping Algerien” legt er nun direkt nach und entführt Euch in ein Land, das in Sachen Fußball-Tourismus noch ordentlich Nachholbedarf hat. Viel Spaß beim Lesen!
Warum eigentlich Algerien?
Um den ökologischen Fußabdruck nicht überzustrapazieren, indem man nur für den Besuch einer Stadt soweit fliegt, war neben dem Trip nach Tunis unbedingt noch ein weiteres Abenteuer notwendig. Die Entscheidung fiel auf Algerien. Warum? Ja, warum eigentlich? Algerien liegt üblicherweise so gar nicht im Blickfeld Europäischer Touristen, oder gar Fußballbeobachter. Da es sich bei Algerien und Tunesien um Nachbarländer handelt und die beiden Hauptstädte in nur einer Flugstunde zu verbinden sind, ist ein nicht unwesentlicher Grund. Aber was sonst spricht für ein Land, das mal so überhaupt nicht in den Katalogen einschlägiger Reiseveranstalter liegt?
Lasst es uns so ausdrücken: Irgendwann während der Planungen kam da so ein Moment, in dem der Kampfgeist und das Interesse stieg und man da unbedingt hinwollte. Und wenn man jetzt zurückblickt: Zurecht, denn wir wurden nicht enttäuscht.
Erschwerte Rahmenbedingungen
Dass Tunesien aufgrund des frühzeitig angesetzten, aber letztendlich verschobenen Lokalderbies in den Planungen safe war (wir berichteten), hatte ich ja bereits geschrieben. Es gibt relativ kostengünstige Direktflüge aus München, die touristische Infrastruktur scheint ausgebaut und die Einreise mit deutschem Reisepass läuft unproblematisch. Klar, es kann zu Problemen bei Spielansetzungen kommen, aber … this is Africa …
Das Abenteuer Algerien stellte uns da schon vor etwas größere Herausforderungen. Einerseits ist die Einreise nur mit einem Visum möglich. Um dieses beantragen zu dürfen, muss bereits eine bestätigte Hotelreservierung vorliegen, welche aufgrund der Stornierungsmöglichkeiten nicht durch booking oder sonstige einschlägige Portale durchgeführt werden soll, sowie eine bestätigte Flugbuchung. Nach Zahlung von 100 Euro darf man den Wisch dann entweder persönlich im Konsulat in Frankfurt beantragen oder – wenn man dafür keinen Urlaub nehmen will – unter Hinzuziehung weiterer 70 Euro eine Agentur damit beauftragen. Die Berichte mehren sich, dass einem die Ausstellung eines Visums dann dennoch ohne Angaben von Gründen verwehrt werden kann. Die Bearbeitungszeit beträgt im Anschluss 21 Werktage (!!!).
This is Africa…
Zusammengefasst: Um ein Spiel in einem Land besuchen zu können, dessen Ansetzungen – wenn überhaupt – 3 Tage vorher bekannt gegeben werden, muss ich 4-6 Wochen vorher ein Hotel und einen Flug buchen und zahlen, damit ich 170 Euro ausgeben darf, um ein Visum zu beantragen, welches ich möglicherweise gar nicht bekomme, um letztendlich Gefahr zu laufen, kein Spiel zu sehen, weil nix terminiert ist.
Klingt geil? Das machen wir! Und pünktlich 3 Tage vor Weihnachten war auch das Visum im Briefkasten.
Was das Problem mit der fehlenden Ansetzung noch nicht beheben konnte… Zwischenzeitlich wurden Unmengen an Spielen während unserer Anwesenheit aufgerufen und wieder abgesagt, verschoben oder in andere Städte verlegt. This is Africa… Und mit einem süffisanten Lächeln erinnerte ich mich immer wieder an einen Artikel auf sechzger.de, in dem einst gefordert wurde, Spieltage der dritten deutschen Liga hätten gefälligst schon 8 Wochen vorab uhrzeitgenau terminiert zu sein… 😉
Groundhopping Algerien
Nachdem sämtliche Spiele für den Neujahrs- oder Silvestertag wieder mal kurzfristig postponed wurden, kam ein paar Tage vorher wenigstens noch ein Pokalspiel in der ersten Runde des algerischen “Pokals der Republik” rein.
Ben Aknoun – MC Alger 0:3
Pokal der Republik Algerien, Round of 64, Stade du 5 Juillet
Der Flug aus Tunis nach Alger (ich beschränke mich bei der Schreibweise auf die vor Ort verwendete französische Schreibweise) ging leider mit dreieinhalb Stunden Verspätung los. Zusammen mit einer indiskutabel langen Einreiseprozedur und dem nachmittäglichen zu stillenden, schweren Hungergefühl kamen wir am Ankunftstag zwischenzeitlich etwas unter Druck, da der Anpfiff des womöglich einzig machbaren Spiels auf 19 Uhr gelegt worden war.
Wir wurden bereits vorgewarnt, dass es am Nationalstadion “5. Juli” keine Tageskassen geben würde und machten uns daher vorab online auf die Suche nach Tickets. Über die Vereine war nichts möglich und so wurde uns die Plattform digizitickets.dz empfohlen. Diese ist jedoch nur in Algerien aufzurufen und selbst mit einem VPN-Tunnel scheitert man irgendwann an der notwendigen algerischen Telefonnummer. Mehrere Rückfragen über deren Instagram-Account führten dann zum Erfolg: Ohne dass wir damit rechneten, wurden uns vier Freikarten als pdf zugeschickt.
Die Agentur vertreibt laut deren Social Media-Auftritt Tickets für alle großen algerischen Vereine. Da dies alleine in der Hauptstadt mit dem MC in rot-grün, dem USM in schwarz-rot, Belouizdad (rot-weiß) und Paradou (blau-gelb) vier Vereine in der ersten Liga sind, gibt’s wohl einiges zu tun.
“Pokal der Republik” mit dem MC Alger
In der ersten Hauptrunde des algerischen “Pokals der Republik” wurde einem weiteren Zweitligisten der Hauptstadt, dem ES Ben Aknoun, der große MC Alger zugelost. Da das große Nationalstadion – und Heimstadion des MCA – gleichzeitig im gleichnamigen Stadtviertel des Heimvereins lag, wurde das Spiel kurzerhand ins Stadion des 5. Juli (Tag der Unabhängigkeit 1962) gelegt. Das 1974 eröffnete Stadion hat zwar kein Dach, aber drei Tribünen mit Oberrang und verfügte ursprünglich über 66.000 Plätze. Nachdem 2013 aufgrund der Bausubstanz zwei Menschen bei einem Einsturz ums Leben kamen, wurde das Stadion saniert und weist nun 75.000 Sitzplätze auf.
Wir hatten keine Ahnung, wie wir ein Erstrundenpokalspiel “im Vorort” einzuschätzen hatten und rechneten instinktiv mit ein paar Hundert bis ein paar Tausend Zuschauer. Bestärkt wurde das Gefühl dadurch, dass der Stau auf der Hauptstraße bei weitem nicht so gravierend war wie wenige Tage zuvor in Tunis. Da auch die Flutlichtanlage des Stadions nur wenig Licht nach außen transportierte, meinte unser Taxifahrer, dass dort heute gar kein Spiel stattfände.
Eintritt? Frei, aber beschwerlich!
Etwas hektischer wurde es, je näher wir zum Eingang kamen. Nach erfolgter erster Ticket-, Körper- und Reisepasskontrolle (zumindest einer Kopie, das Original hatten wir im Hotel gelassen) wenige Minuten vor Anpfiff, kam auch schon ein irritierter Schutzmann auf uns zu und fragte nach unserem Begehr. Dieser hätte eigentlich logisch gefolgert werden können (“Wir wollen da rein!”), was aber folgte, war ein aberwitziger Staffellauf von einem Schutzmann zum nächsten, wobei an den insgesamt 7 Stationen jedes Mal unsere Eintrittskarten kontrolliert und unsere Reisepasskopien an den nächstfolgenden Schutzmann übergeben wurden. Schön langsam verrann die Zeit. Und so wirklich sicher, ob wir das Spiel mit unseren internet-Freikarten sehen würden, waren wir uns dann irgendwann nicht mehr. Schutzmann Nummer 8 hingegen überraschte uns, indem er uns durch den VIP-Bereich hindurch auf unsere Sitzplätze auf der Ehrentribüne brachte.
Wo wir unseren Augen kaum trauten, als wir die zweistöckige Fankurve rechts von uns, zum Bersten gefüllt mit sicherlich 15.000 Ultras und Fans zum ersten Mal sahen! Wirklich einschätzen konnten wir die Zahl der Fans, die bereits am Singen waren, nicht, da wir nicht sehen konnten, wie weit der Mob über uns im Oberrang reichte. Schutzmann Nummer 9 hatte uns nämlich zielstrebig Plätze zugewiesen, auf denen sicherlich nichts vom Oberrang auf unser herunterfallen könnte, sprich: Genau darunter.
Bengalfeuer, Blinker und Silvesterfeuerwerk
Was sofort ins Auge fiel war die einheitliche Kleiderordnung der Fans: Sämtliche Besucher des Blocks hinter der Fahne der “Green Corsairs” trugen schwarze Kapuzenpullis und grün-weiße Balkenschals. Alle Fans im Block hinter der Fahne von “Twelfth Player” weiße Pullis und rot-grüne Schals. Wieder nebenan bei “Amore e Mentalita Ultras” war die Farbwahl wieder anders. Und im Unterrang zog sich das noch weiter durch.
Während des Spiels wurden durchgehend unzählige Schwenkfahnen gewedelt und Doppelhalter gezeigt, dazu pausenlos Bengalfeuer, Blinker und Silvesterfeuerwerk gezündet. Von mehreren Capos wurden zusammen mit vielen Trommeln, die schon fast an orchestrierte Schlagzeugmelodien erinnerten, die Gesänge einheitlich über alle Ultrasblöcke hinweg koordiniert. Ganz ernst: Das war eine der besten und aktivsten Kurven, die ich bislang zu Gesicht bekommen habe – ganz, ganz phänomenal!
Einseitige Partie auf dem Rasen
Sofern wir unsere Blicke mal von den Rängen wegbewegen konnten, zeigte sich das Spiel einheitlich: MC Alger klar überlegen, ES Ben Aknour nur damit beschäftigt, mit Mann und Maus zu verteidigen. Mit 3:0 waren sie gut bedient, wobei MCA wohl auch ordentlich einen Gang zurück schaltete.
In der Halbzeitpause sahen wir uns ein wenig im VIP-Bereich um, der mit unzähligen Bildern der großen Triumphe der Vereins- und Nationalmannschaftsgeschichte vollgepflastert waren. Ein Bild von Ex-Löwen Karim Matmour (ging mit uns in der Saison 2016/17 “to the top”) suchten wir vergeblich. Was jedoch ins Auge fiel, war ein Bild von Jean-Marie Pfaff in inniger Umarmung mit einem algerischen Fußballer; es handelte sich dabei vermutlich um Rabah Madjer. Nachdem dieser 1987 mit seinem Treffer für den FC Porto im Champions-League-Finale von Wien das Spiel gegen Bayern und dessen Torwart Pfaff entschied, entwickelte sich zwischen den beiden wohl eine Freundschaft.
In Halbzeit 2 zog die Kurve noch etwas an und erhöhte deutlich die Bengalfeuer-Frequenz, während das Spiel auf dem Platz immer mehr an Fahrt verlor. Aber wir waren sowieso nur auf die Kurve fokussiert. Einfach unbeschreiblich.
Code-Wort “Bière”
Nach Spielende wurden wir uns dann selbst überlassen. Sämtliche Sicherheitsvorkehrungen, die wohl vor dem Spiel nur dazu galten, für unsere Sicherheit zu sorgen, waren nun egal, und wir konnten als “freie Menschen” das Stadion verlassen. Es zog uns zuerst zu einem Restaurant, um von dort auf ein Taxi zu warten, das uns in die Innenstadt brachte.
Wir waren gerade erst sechs Stunden im Land und schon total geflasht. Was nun zu unserem Glück fehlte, war eine Länderpunkt-Abschlusshoibe. Doch auch diese Hürde wurde trotz fehlender Sprachkenntnis gemeistert und der Taxifahrer setzte uns zielstrebig in einer unbeleuchteten Straße – knapp 100 Meter von unserem Hotel entfernt – ab und zeigte auf eine verschlossene Tür. Durch Übermittlung des Code-Worts “Bière” öffnete sich die schwere Eisentür und wir standen unversehens in einer unfassbaren Kellerboazn: Laute Musik, vollbesetzt mit einheimischen Frauen und Männern – Erstere eher leicht bekleidet – Bierkästen, die sich bis zur Decke stapelten, und Zigarettenrauch, den man hätte schneiden können. Im zugehörigen Restaurant wurde uns gleich ein Tisch freigeräumt und ein eigener Kellner zugeteilt. Und die Sperrstunde schon zum ersten mal weit überschritten.
Silvesterparty in der Kellerboazn
Den Ort für unsere Silvesterparty am darauffolgenden Tag hatten wir hiermit auch schon gefunden und reservierten sofort. Wir bereuten es nicht, denn den nächsten Abend wurden wir an unserem “Stammplatz” schon mit einer Flasche Wein begrüßt und feierten feuchtfröhlich ins neue Jahr.
Drei volle Tage verbrachten wir in Alger. Wir hatten vorher nicht viel darüber erfahren und es war schwer, uns vorab ein Bild zu machen. Algerien liegt nicht auf den üblichen Listen der Reiseveranstalter und das Land selbst unternimmt mit seinem strengen Visumsbestimmungen auch nichts, um das zu ändern. Andere Touristen bekamen wir eigentlich gar nicht zu Gesicht, obwohl wir sämtliche bekannte Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt abgeklappert haben. Ähnlich wie in Tunis gibt es eine muslimische Altstadt, die Kashbah. Deutlich größer außenrum ist jedoch der französische Teil, wobei einfach unfassbar viele Gebäude sich nach diesem Architekturstil richten. Sobald man die Unterstadt verlässt und am Hang hochfährt, beispielsweise, um zur Kathedrale zu gelangen, sind die Hauswände mit Fußballgrafittis übersät. Deutlicher Sieger an Qualität sowie Quantität ist auch hier der MC Algers, wobei USM nur knapp dahinter folgt.
Algerien? Eine Reise wert!
Die große Moschee von Alger wurde 2024 erst eröffnet und bietet 120.000 Betenden Platz. Das zugehörige Minarett ist mit 265 Metern deutlich höher als unsere Frauenkirche. Der Stadtpark “Jardain d´Essai du Hamma” wurde 1933 schon genutzt, um die Hintergrundkulisse für “Tarzan” mit Johnny Weissmuller darzustellen, und ist heute noch hoch frequentiert. Der Vorplatz des Märtyrermonuments wird von eifrigen Geschäftemachern, fliegenden Händler und Souvenierverkäufern genutzt. Das Monument selber ist leider aus der Nähe nicht so atemberaubend, wie es von Weitem den Anschein macht. Auf eine Fahrt zur (an und für sich interessanten) römischen Ruinenstadt Tipaza sollte man am Neujahrstag verzichten, sofern man noch unter den Einflüssen der Silvesternacht steht.
Eine preisliche Einordung zu geben fällt schwer: Während man am Geldautomaten für 1 Euro 140 Dinar bekommt, kann man bei den illegalen Geldwechslern am Flughafen oder in einschlägigen Shops in der Stadt gleich 200 Dinar dafür bekommen. Der Preis von einem Bier (400 Dinar) variiert also je nach Herkunft des Geldes zwischen 2 und 3 Euro. Eine gute Burgermahlzeit gibt’s für 600 Dinar und ein ausgedehntes Silvestermenu mit Rindersteak ist für 1.800 Dinar zu haben.
Mit allen Visumsbestimmungen, Regularien, aber auch den Problemen beim Ticketkauf ist Algerien sicher nicht Top1-Land für (Fußball-)Reisen. Es sind aber auch genau diese Herausforderungen und Aufgaben, die zumindest mir bei der Planung Spaß machen. Die Erfahrung, nicht ausgetretene Pfade zu beschreiten, gefällt mir und die Freude, positiv überrascht zu werden, ist mein persönliches Urlaubsfeeling. Algerien hat mich auf sehr vielen Ebenen überzeugt. Einen Minuspunkt gibt’s für die Bettwanzen…
Danke schon vorab für die Kommentare.
Groundhopping auf sechzger.de
In den letzten Monaten erschienen bereits einige Groundhopping-Artikel auf sechzger.de. Hier eine kurze Übersicht:
Groundhopping Rumänien
Groundhopping Mazedonien bzw. Nordmazedonien
Groundhopping Armenien
Groundhopping Thailand
Groundhopping Ukraine
Groundhopping Kuba
Groundhopping Montenegro
Groundhopping Indien
Groundhopping Kirgisistan
Groundhopping Saudi-Arabien
Groundhopping Antarktis (Südgeorgien)
Groundhopping Kolumbien
Groundhopping Indonesien
Groundhopping Laos
Groundhopping Georgien
Groundhopping Sansibar
Groundhopping Moldawien/Transnistrien
Groundhopping Nordkorea
Groundhopping Bulgarien
Groundhopping Senegal
Groundhopping Gambia
Groundhopping Guinea-Bissau
Groundhopping Frankreich
Groundhopping Kosovo & Nordmazedonien
Groundhopping Bosnien
Groundhopping Taiwan
Groundhopping Tunesien
Danke für den ausführlichen Bericht! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt – und ihr habt ja echt einen Volltreffer gelandet.